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Ein Mensch ist kein Huhn: Hänni in memoriam

Habe ich Ihnen von meinem Huhn erzählt?

Es war ein kluges Huhn, ein sehr kluges Huhn, und wir – das heißt ich und meine Freunde – haben ihm sogar das Apportieren beigebracht. Man sollte freilich nicht erwarten, dass ein Huhn große Dinge im Schnabel tragen kann – also keine Bälle, keine Stöcke. Mein Huhn vermochte dennoch Zahnstöckerl und Plastikperlen zu apportieren. Man musste ihm bloß sagen: „Komm, Hänni“, so hieß mein Huhn, „bring die Perle, bring das Zahnstöckerl“ usw. und prompt erfüllte es das Kommando.

Hänni hat auch noch viel mehr verstanden. Sehr viel mehr. Wenn man mit ihr sprach, bewegte sie den Kopf ungelenk auf Hühnerart und schaute einen intensiv ins Gesicht. Einmal sagte ich ihr: „Ich kann meinen Handschuh nirgends finden. Hmm. Wo könnte er sein?“

Auf der Stelle flitzte Hänni in den nächsten Raum hinein, blieb irgendwo stehen und gackerte beherzt. Neben ihr war der gesuchte Handschuh.

Manchmal trug ich Hänni Gedichte vor – von allen deutschen Lyrikern schien ihr am besten Stefan George zu gefallen. Fragen Sie mich bitte nicht, warum. Wenn ich mit dem Aufsagen fertig war, blickte mich Hänni mit großen Hühneraugen an und gackerte. Gelegentlich flatterte sie mit den Flügeln und gackerte zugleich, als würde sie selbst ein Gedicht aufsagen.

Sie fragen sich vielleicht, wie das möglich sei, dass ein Huhn ein Gedicht vorträgt? Es ist nicht anders, als wenn ein Kleinkind spricht. Sagt das Kind „Nana“ statt „Mama“, ist das nie mit Absicht. Es ist überzeugt, dass es „Mama“ artikuliert hat. Es stößt lediglich an die Grenzen seiner physiologischen Möglichkeiten. Der Kopf weiß, was er will, die Zunge ist aber – noch – nicht fähig, dies auszuführen. Ähnlich ergeht es einem Huhn, das Stefan George vortragen will.

Ich gebe zu: Hänni war, was Hühner betrifft, kein nullachtfünfzehn-Federvieh. Die meisten ihrer Artgenossen interessieren sich nicht für die Lyrik. Doch auch ein so intelligentes Huhn wie Hänni, stößt bald an seine Grenzen. Es spricht nur das aus, was ihm körperlich machbar ist. Es will „Uns zuckt die hand im aufgescharrten chore/ Der leichenschändung frische Trümmer streifend“ sprechen, kann aber, weil es schließlich ein Huhn mit hartem Schnabel ist, lediglich „Gak Gak Gik-ka Gak“ oder so artikulieren.
Glauben Sie aber ja nicht, dass so etwas Hänni frustriert hätte. Im Gegenteil. Sie war stets überzeugt, dass sie „Uns zuckt die hand im usw.“ vorgesagt hatte – so wie ein Kleinkind überzeugt ist, dass es „Mama“ sagt, wenn es in Wirklichkeit eindeutig „Nana“ artikuliert.

Kinder aber schaffen es irgendwann, zwischen „Nana“ und „Mama“ zu unterscheiden. Deshalb tun wir ihnen, wenn wir sie nachmachen und selbst „Nana“ nachplappern, keinen Gefallen. Babysprache ist letztendlich disrespektierlich, weil sie einem Kleinkind ein falsches Signal vermittelt.
Wenn Eltern mit ihren Kindern Babysprache reden, dann nur um durch die Verniedlichung der Sprache ihre eigene Überlegenheit zu betonen.

Hühner schaffen es freilich nie übers Gegacker hinaus, die Menschensprache nachzumachen. Dennoch wäre es falsch, ein Huhn, das Stefan George vorträgt, mit „Gak Gak Gik-ka Gak“ zu antworten.

Der gleiche Vorgang gilt übrigens für die Literatur. Jede Kultur kann nur das in Worten ausdrücken, was ihr Wortschatz und ihr Bewusstsein erlauben. Seit mehreren Wochen lese ich ein sehr spannendes Buch über dieses Thema: „Mimesis“ von Erich Auerbach. Auerbach hat in diesem 1942-1945 geschriebenen Werk einen Streifzug durch die westliche Literatur von Homer bis ins 20. Jahrhundert verfasst, und veranschaulicht, wie jede Kultur nur das in Worten ausdrücken kann, was die Zeit, die Mentalität und der jeweilige Zustand der Sprache erlaubt. Dante als Dichter war, Auerbach zufolge, erst am Anfang des 13. Jahrhundert möglich, Gregor von Tours als Zeitzeuge nur im 6. Jahrhundert.

Immerhin: Die Schränke, die ein Zeitalter und Standort auf die menschliche Kommunikation setzen, sind zu jeder Zeit ausdehnbar. Sprache und Kultur sind folglich ständig in Bewegung – mal im Sog einer Veredelung, mal in der Dekadenz begriffen.

Hühner hingegen stoßen recht schnell an ihre Grenzen, was für Hänni übrigens fatal war. Eines Tages haben wir sie gepackt und ihr den Hals umgedreht. Sie hat natürlich lautstark gegackert, um zu protestieren. Wir haben aber leider nicht verstanden. Noch schlimmer: Wir hatten sie mit einem anderen Huhn verwechselt. Schließlich sehen für uns Menschen nun mal alle Hühner gleich aus. Es war jedenfalls das Aus für Hänni.

Wenn ich hier trotzdem zugebe, dass sie gut geschmeckt hat, meine ich dies wirklich nicht pietätlos. Bitte PETA nicht weiter sagen.

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