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He, Ray, bist du wirklich ein „Waldjunge“?

Als ich Sonntag nach den Stichwörtern „Ray“, „Berliner“ und „Waldjunge“ googelte, stieß ich auf ca. zehn Treffer. Ein mickriges Ergebnis. Gestern waren es schon das Dreifache.

Doch bevor ich über Ray erzähle, zuerst ein kurzer Rückblick: 1531 trat im Hasperger Wald bei Salzburg ein „Forstteufel“ in Erscheinung. Nur Folgendes ist über ihn bekannt: dass sein Körper mit einem rötlichen Fell bedeckt war und dass er auf allen vieren ging. Er starb, kurz nachdem er dingfest gemacht wurde. Immerhin existiert ein Bild von ihm. Es zeigt ein Wesen mit Löwenkrallen und Vogelbeinen, mit einem Schwanz wie ein Hund und einem bärtigen Gesicht. Natürlich ein Fantasieporträt, trotzdem sehr beeindrückend. Der Schweizer Naturwissenschafter Conrad Gesner hat uns den einzigen bekannten Bericht über den Forstteufel in seiner „Historia Animalium“ (1552) überliefert.

Aber zurück zu Ray. Er wurde nicht dingfest gemacht. Er ist schnurstracks allein ins Rote Rathaus nahe dem Alexanderplatz gegangen, wo er seine abenteuerliche Geschichte erzählte – und zwar auf fließendes Englisch. Seine Deutschkenntnisse scheinen hingegen rudimentär zu sein.

Sein Erscheinungsbild wirkt – im Gegensatz zu dem des Forstteufels vom Hasperger Wald –ganz normal. Ich habe im Internet ein Bild in Passfotoformat von ihm gesehen. Natürlich war das Gesicht – wie immer heute, wenn man neugierig wird – stark verpixelt. Dennoch scheinen seine Gesichtszüge wohlproportioniert zu sein, die gefransten Haare rotblond und glänzend, die Schultern breit, der Gesamteindruck anmutig. Kein Glockner von Notre Dame ist Ray, der angibt, 17 Jahre alt zu sein. Offenbar kennt er auch seinen Geburtstag.

Er berichtete, dass er seit fünf Jahren mit seinem Vater Ryan durch die Wälder streifte. Diese Odyssee begann, kurz nachdem seine Mutter Doreen gestorben sei. Zwei Wochen bevor er in Berlin auftauchte, sei sein Vater durch einen Sturz im Wald tödlich verunglückt worden. Ray habe die Leiche unter Steinen verscharrt. Er wisse aber nicht mehr, wo.

Immerhin hatte Vater Ryan seinem Sohn stets eingbläut, dass Ray für den Notfall auf den Kompass schauen und nach Norden, nach Berlin, marschieren sollte. Genau das hat Ray getan. Als er das Rote Rathaus betrat, besass er – neben Kompass und einer Landkarte – ein Zelt, einen Schlafsack und einen Rücksack, der mit Wintersachen gefüllt war. Der Jüngling machte einen gesunden, unverwahrlosten Eindruck. Die Polizei sucht jetzt über Interpol nach Verwandten usw. Weil Ray minderjährig ist, kam er in die Obhut eines Vormunds.

Mehr weiß ich nicht über den Fall Ray. Mehr steht in den Texten der verschiedenen online Ausgaben von Zeitungen und Zeitschriften nicht. Ein ungenannter Polizist halte die Geschichte für „glaubhaft“ – zumindest nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen. Nur in einem Text erfuhr ich, dass zumindest ein Polizist skeptisch ist. Vor allem wegen Rays zu gepflegten Aussehens.

Als Autor von „Kaspar Hausers Geschwister“ bin ich selbst ziemlich expert auf dem Gebiet der „Wolfskinder“. Folgende Fragen würden mich interssieren: 1.) Was für ein Englisch spricht Ray? Damit meine ich nicht nur, ob er Engländer oder Amerikaner ist. Es gibt auch regionale Schattierungen der englischen Sprache. 2.) Kann er lesen und schreiben? Wenn ja, wo hat er das Lesen und Schreiben gelernt? Kennt er Lieder? Nach dem bisherigen Stand der Dinge heißt es, dass er sich nur etwa fünf Jahre zurückerinnern kann. Sein Leben beginnt also um die Zeit, als er mit dem Vater in den Wald ging. 3.) Woher stammen seine Kleider– inklusiv Unterwäsche und Strümpfe und selbstverständlich Schuhe? Ich würde Ray viele Fragen über das Leben im Wald, übers Kochen, Waschen usw. stellen.

Ray erschien am Roten Rathaus nahe Alexanderplatz am 5. September. Die ersten Berichte waren erst etwa zwei Wochen später zu lesen – genügend Zeit, so meine ich, um viel über Ray zu erfahren – gesetzt den Fall, man stellt die richtigen Fragen.

Auch dem Forstteufel hätte ich gerne Fragen gestellt, falls es sich nicht um einen elenden Verblödeten gehandelt hatte. Seine Geschichte ist leider so gut wie unbekannt. Was heißt es, zum Beispiel, genau, dass er behaart war? Dass er nackt durch den Wald gelaufen ist? Wenn er wirklich ein Nackerter war, wäre dies eventuell ein Indiz, dass man ihn im Sommer erspäht und dingfest gemacht hat und dass er vielleicht nur wenig Zeit im Wald verbracht hatte. Konnte er reden oder zumindest Sprache verstehen? Die Geschichte, die uns überliefert wurde, ist aber leider nur eine Ausgeburt der Fantasie. Fantastisches erzählt man aber gerne weiter, weil es oft interessanter ist als die Wirklichkeit.

Auch über Ray wird momentan fantasiert. Nur: In seinem Fall könnte man noch immer an die Fakten kommen. Ich persönlich gehe davon aus, dass Ray nur ein Teilzeit-Waldjunge war. Noch aber wissen wir zu wenig. Am Ende wird die Geschichte etwas weniger spektakulär klingen dafür aber nicht unbedingt weniger interessant. Fortsetzung folgt.

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