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Die Wahrheit über die Menschennatur

„Ich kenne keinen Guido“, sagte meine Mutter. Warum sollte sie auch? Sie ist Amerikanerin, und außerdem interessiert sie sich überhaupt nicht für die Politik – auch nicht für die amerikanische.

Dafür liest sie aber die „Arizona Republic“. „Wer kann so viel lesen?!“, sagt sie. „Das meiste schaue ich mir überhaupt nicht an. Ich werfe es gleich weg.“ Aber mit einer erstaunlichen Fingerfertigkeit extrahiert sie die „Arizona Living“-Seiten aus der Zeitungsmasse und stürzt sich auf die Rätselseite.

Kreuzworträtsel und „Jumbles“ (Buchstabensalat, aus dem man Wörter macht,) das sind ihre Lieblinge. Sudokos? Nein, danke. Auch ein paar Comics mag sie gerne lesen. Doch nur ein paar. „Der Rest ist so idiotisch.“ Gelegentlich wird sie einen Artikel über Deutschland überfliegen – z.B. dass jetzt Oktoberfest ist – , weil sie weiß, dass ich in Deutschland lebe. Aber sie verliert das Interesse am Inhalt sehr schnell.

Als ich neulich am Telefon den Namen Silvio Berlosconi fallen ließ, reagierte sie mit Unkenntnis. „Weißt du nicht, wer das ist?“ fragte ich.

„Nein, wer ist das?“

„Nicht so wichtig“, antwortete ich. Und so ist es: Für sie ist der Name Berlusconi ebenso unwichtig wie der von Guido.

Nein, nein. Kein Anzeichen von Demenz oder Alzheimer. Nur Desinteresse für das, was sie nicht direkt tangiert.

Und somit habe ich ein Problem gelöst, dass die Wissenschaft seit Jahrhunderten geplagt hat. Meine eigene Mutter ist die Antwort auf die Frage: Wie ist der Mensch, wenn er nur nach seiner ureigenen Natur lebt? Früher war in Gelehrtenkreisen von „homo ferus“ – zu Deutsch „der wilde Mensch“ die Rede.

Die Wissenschaftler haben wirklich geglaubt, es gebe Menschen, die nie Kontakt zu anderen Menschen hatten. Heute wissen wir, dass das unmöglich ist. Ohne Kontakt zu anderen geht der Mensch – erst recht als Kind – ein. (Über Wolfskinder brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Tiere machen sehr schlechte Mütter für Menschen). Meine Mutter hingegen ist der lebende Beweis, dass es den „homo naturalis“ gibt. Das heißt: Sie und Milliarden andere Menschen, deren Interesse nicht weiter als ihre unmittelbare Umwelt reicht. Diese Milliarden kennen weder Berlusconi (sorry, Silvio) noch Guido – höchstens Michael Jackson. Dennoch kämen sie nie auf die Idee, sie hätten etwas verpasst.

Hier ein bekanntes Beispiel aus der Frühzeit des Rätselratens über den „homo naturalis“: das des „Wilden Peters“. Er wurde 1724 – damals war er vielleicht dreizehn Jahre alt – in Hameln entdeckt. Stumm und nackt stand er da und trug noch Reste zerfetzter Kleider am Leib. Schnell gingen die Meinungen auseinander: Naturkind oder verblödetes Kind?

Zufälligerweise hatte der englische König Georg I – ehemals Georg Ludwig, Kurfürst von Hannover – von diesem Knaben erfahren. Er nahm Peter nach London mit, wo die angesehensten Geisteswissenschaftler dieser Zeit ihn näher untersuchen sollten.

Peters erster „Lehrer“, der Arzt und Mathematiker John Arbuthnot, kam auf die geniale Idee, dem Jungen Englisch beizubringen. Der Wissenschaftler meinte, wenn er Englisch lernt, wird er von allein über seine abenteuerliche, wilde Vergangenheit erzählen. Peter lernte kein einziges Wort, und der enttäuschte Wissenschaftler gab auf. Vorteil Peter. Er durfte den Rest seines langen Lebens auf Staatskosten auf dem Land verbringen. Ab und zu meldete sich ein Wissenschaftler, der in des „wilden“ Manns Seele zu schauen gedachte. Aber das gelang letztlich niemandem.

Ich bin überzeugt, dass Peter, wenn er heute lebte, auch wenn er sprechen könnte, nicht wissen würde, wer Silvio Berlusconi ist. Auch nicht, wer Guido ist. Dennoch kein Grund, kein schönes Leben zu haben. Nicht wahr, Mutter?

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