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Die traurige Geschichte von Marcos

Immer wieder denke ich an Marcos Rodríguez Pantoja. Sein Schicksal habe ich vor einigen Jahren in einem Buch über Wolfskinder geschildert.

Marcos und ich sind Zeitgenossen. Nur: Ich wurde in der Bronx in eine mehr oder weniger "normale“ Familie geboren, er in Andalusien in furchtbare Verhältnisse.

Als er noch sehr klein war, verstarb seine Mutter. Sein Vater heiratete wieder und zog mit dem Sohn ins Dorf Fuencaliente in der Sierra Morena zu seiner neuen Frau. Die Stiefmutter, die bereits eigene Kinder hatte, hasste den Buben auf Anhieb. Als Marcos sieben war, verkaufte ihn sein Vater als Hirten an einen Großgrundbesitzer. Ja, Sie haben richtig gelesen: Er hat ihn verkauft. Wir schreiben das Jahr 1953.

Wenn sich sein bisheriges Leben wie ein böses Märchen liest, ist das was nun folgte, noch märchenhafter. Der kleine Marcos wurde in die Berge geführt, um dort bei einem alten, weißbärtigen Mann in einer Höhle zu leben und Ziegen zu hüten. Der alte Mann brachte ihm in kurzer Zeit das Wichtigste bei: Feuer ohne Streichhölzer zu machen, Essen zu Kochen, Tiere zu töten und zu häuten und natürlich Ziegen zu zählen. O-Ton Marcos: "Er hatte zwei Dosen. In einer waren Steine, kleine Steinchen, Kiesel. Er sagte mir: 'Wenn eine Ziege ins Gehege geht, tust du jedes Mal ein Steinchen in die andere Dose. Wenn du Steinchen übrig hast, dann fehlen dir welche. Wenn alle Steinchen in der anderen Dose sind, dann weißt du, alle sind da.’“

Ansonsten redete der alte Mann nur wenig, und nach etwa sechs Monate war er eines Tages sprurlos verschwunden, ohne dass er sich verabschiedet hatte.

Mein Thema ist wie immer die Sprache. Ab seinem siebten Lebensjahr hatte Marcos nur wenig Gelegenheit, seine bisher erworbenen Sprachkenntnisse zu gebrauchen. Niemand war da, mit dem er sich hätte unterhalten können. Lediglich alle paar Monate kamen der Besitzer oder seine Mitarbeiter vorbei, um nach den Rechten zu schauen oder um Tiere mitzunehmen. Marcos verbrachte die nächsten zwölf Jahre in dieser Einsamkeit.

O-Ton Marcos: "Ich konnte reden, aber ich kannte nur wenige Wörter. Ich wusste nicht, wie viele Dinge hießen. Ich wusste, dass ein Glas ein Glas ist, und dass man es zum Trinken benutzt, aber ich wusste nicht, wie man es nannte.“

Um die Einsamkeit zu vertreiben, befreundete er sich mit wilden Tieren aus dem bergigen Gelände: insbesondere mit einer Füchsin, einer Schlange, einem Adler und einer Wölfin. Für diese Kontakte brauchte er freilich keine Sprachkenntnisse.

So vergingen die Jahre, bis er eines Tages ganz zufällig von einer Patrouille der Guardia Civil aufgegabelt und in die Zivilisation zurückgebracht wurde. Was seine Wiedereingliederung besonders schwer machte, war – neben seinem Mangel an gesellschaftlichen Erfahrungen – seine Sprachbehinderung. Er konnte zwar das meiste verstehen, was ihm die Menschen sagten, und er beherrschte nach wie vor die Grammatik seiner Muttersprache. Er fand aber nur wenige Wörter, um sich zu verständigen.

Alle Versuche, ihn in die Gesellschaft zu integrieren, schlugen letztendlich fehl. Er blieb der ewige Außenseiter. Nach seinem Dienst im Militär zog er nach Mallorca, wo er in Hotels jobbte und in einem unordentlichen Zimmer hauste. Dort lernte ihn 1975 der katalanische Schriftsteller Gabriel Janer Manila kennen, der aus ihren Gesprächen – Marcos redete stets langsam und mühevoll – ein Buch machte. Eine empfehlungswerte Lektüre, wenn man erfahren will, wie es ist, wenn ein Mensch zu einer Insel wird.

Nebenbei: Auch Erwachsene, die lange in der Isolierung leben, leiden unter einem Verlust der Sprache. So, zum Beispiel, der schottische Matrose Alexander Selkirk, der 1704 nach einem Streit mit dem Schiffskapitän auf einer Insel nahe der chilenischen Küste ausgesetzt wurde. Dort verbrachte er vier einsame Jahre, bis er endlich gerettet wurde. Bei seinem ersten Kontakt mit Menschen konnte er nur noch stammeln.

Selkirk fand seine Zungenfähigkeit schnell wieder. Marcos hingegen hinkte seit seiner Rückkehr in die Welt der Menschen immer hinterher. Zu jung war er, als er die Zivilisation verlassen hatte, zu lange war er von ihr weg. Und wenn er noch lebt, ist er noch immer eine elende Figur.

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