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Die Leiden der jungen Werte

„Die Zeitschriften werden immer dümmer“, sagte mir mein Sohn letzte Woche. „Mir kommt es vor wie das ewige Anschleimen. Man will gefallen, und im Grunde wissen die gar nicht, was uns interessiert. Alle machen das Gleiche – wie halt die Lemminge: Sechszig Jahre Bundesrepublik, Facebook und Twitter. Ätzende Themen. Das Wichtigste fehlt aber.“

„Und was soll das sein?“

„Ich suche nach einem bestimmten Wort. Gestern habe ich es meinen Freunden gesagt. Es fällt mir momentan nicht ein.“

„Vielleicht Ehrlichkeit?“

„Nein, nein. Das war es nicht. Und je mehr ich darüber nachdenke, umso schwieriger wird es, mich zu erinnern.“

„Intelligenz?“

„Nein, ein völlig anderes Wort.“

„Macht nichts. Es fällt dir sicherlich wieder ein.“

Und so war es. „Ich hab es“, sagte mir mein Sohn zwei Tage später. „Werte. Es fehlt an Werten. Genau das ist es. Wie heißt es auf Englisch…values.“

„Ich bin ganz auf deiner Linie. Aber wie würdest du die fehlenden Werte wiederbeleben? Das ist die große Frage.“

„Indem man endlich über die wichtigen Dinge schreibt oder über sie Filme dreht und so weiter.“

„Das Verzwickte ist aber, es gibt keinen Konsens, was einen Wert hat. Nazis, Islamisten, Linke und auch Zentristen sind alle der Meinung, ihre Werte seien die einzigen wahren. Es wird zu einem richtigen Wettbewerb um die Werte.“

Ich werde nicht weiter aus diesem Gespräch zitieren, und ich bereue, dass ich es überhaupt geführt habe. Es ist traurig, wirklich traurig zuzuschauen, wie sich ein junger Mensch mit den Schlingen und Bedeutungsvernebelungen dieses Wortes auseinandersetzt. Und trotzdem glaube ich genauso fest wie mein Sohn an die Existenz von zuverlässigen Werten.

Letztendlich eine komische Vokabel, „Wert“. Der Etymologie nach ist es mit „kaufen“ und „verkaufen“ verwandt – genau die „Werte“, die mein Sohn in den Medien anprangerte.

Um die Wahrheit zu sagen: Ich hätte gehofft, dass „Wert“ und „Wort“ aus dem gleichen Wortstamm abzuleiten wären. Betrachtet man das englische „word“ und „worth“, möchte man an eine solche Verknüpfung fast glauben. Der Schein trügt aber. „Wort“ – übrigens mit dem lateinischen „verbum“ verwandt – bedeutete ursprünglich „das Gesagte“.

Seltsam: Auch wenn ein Wert verwertbar ist, muss es nicht heißen, dass er wertvoll ist. Und noch eigenartiger: Wertloses kann durchaus wertvoll sein.

Es handelt sich also um ein Wort, das mit seinem innigsten Sinn Versteck spielt. Kein Wunder, dass man mit ihm soviel Schindluder treibt. „Schindluder“ bedeutet übrigens „totes Tier“.

Hiermit möchte ich konstatieren, dass mein Sohn auf das schwierigste Wort der deutschen wenn nicht jeder Sprache gestoßen ist – unhandsamer als die „Liebe“ sind die Werte. Manche würden dennoch meinen, dass meine Beurteilung lediglich eine persönliche Bewertung sei.

Die gute Nachricht: Eine Wertigkeit ist nicht das Gegenteil von einer Widerwärtigkeit.

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