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Lob des Feingefühls

Was wäre schöner als das neue Jahr mit Lob und Freude einzuläuten?

Vor zwei Wochen kam meine Frau mit einem dtv-Bändchen nach Hause: "Im Reich der Poesie – Fünfzig Gedichte englisch - deutsch“, herausgegeben und übersetzt von Hans-Dieter Gelfert.

Notabene: 1.) Der Verleger hat mir kein Honorar überwiesen, um diese Glosse zu schreiben; 2.) der Übersetzer, Hans-Dieter Gelfert, ist kein Bekannter von mir.

Seine Übersetzungen haben mich aber gleich unter Strom gesetzt.

Herr Gelfert hat fünfzig englische Evergreens der letzten 450 Jahre, von William Sidney (1554-1586) bis Ted Hughes (1930-1998), ins Deutsche übertragen, und es ist ihm gelungen, meiner Meinung nach, nicht nur die Worte, sondern auch den Rhythmus, den Klang und die Reime der englischsprachigen Vorlagen beinahe perfekt nachzuempfinden.

"Sowas ist vielleicht realisierbar“, sagt mir Freund Chris, "wenn man Einzelwerke eines Lyrikers übersetzt. Geht man ans Gesamtwerk ran, gerät man schnell in Teufels Küche.“

Vielleicht hat Chris recht. Ich schwärme trotzdem von diesen Übersetzungen. Man soll loben, was Lob verdient hat. Hier, zum Beispiel, ein Auszug aus Andrew Marvells (1621-1678) berühmten Verführungsgedicht, "To a Coy Mistress“. Gelfert zufolge "An seine spröde Geliebte“:

Had we but world enough and time,
This coyness Lady were no crime.
We would sit down and think which way
To walk and pass our long love’s day…

Nun Gelfert:

Hätten wir Welt genug und Zeit,
Kein Fehl wär deine Sprödigkeit.
Wir säßen nieder und bedächten,
Wie wir den langen Tag verbrächten…

Zugegeben: Er macht aus "Lady“ (d.h. "gnädige Frau“) ein "deine“; "long love’s day“ hat der zu einem einfachen "langen Tag“ reduziert. (Mir wäre "langen Liebestag“ lieber gewesen). Aber der Rhythmus: Gelfert hat ihn genial nachempfunden. Schön wirken auch die drei Konjunktivformen: "säßen“, "bedächten“ und "verbrächten“.

Oder dieses Gedicht des englischen Mystikers William Blake (1757-1827) – "The Tiger“:

Tiger, Tiger burning bright
In the forests of the night,
What immortal hand or eye
Could frame thy fearful symmetry…

Jetzt Gelfert:

Tiger, Tiger, Glut und Pracht,
Tief in Wäldern dumpfer Nacht,
Welch Unsterblicher schuf sie:
Deine grausame Symmetrie…

Schon gut: Herr Gelfert hat "night“ in "dumpfer Nacht“ verwandelt. Außerdem hat er Blakes "hand and eye“ gestrichen. Aber bitte. Wer will so pingelig sein? Sonst passt alles – vor allem das Martialische des Originals. Ist Ihnen aufgefallen, wie der Marschrhythmus der ersten drei Zeilen in der letzten Zeile so schön trippelnd nachlässt?

Ich könnte noch einige Beispiele hier wiedergeben. Aber genug. Ich weiß aus eigenen Erfahrungen: Wer von einer Sprache in eine andere übersetzt, wird kaum alle Nuancen treffen können. Herr Gelfert ist aber sehr nahe dran. Wirklich. Nebenbei: Christian Enzensbergers "Alice in Wunderland“ ist auch nicht ohne.

Ja, das Feingefühl muss man belohnen. Nein, gerade das Feingefühl. Dies ist ein passender Gedanke für ein neues Jahr.

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