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Die Spießer

Stehe ich allein in der Annahme da, dass der Gebrauch des Wortes „Spießer“ – einst in jedem Munde als Erzbeschimpfung seines Nächsten – seltener geworden ist? Früher fiel mir auf, als jeder jeden genusslich zum „Spießer“ abstempelte, dass man diesen Begriff nie auf sich selbst bezog.

Dass man „Ich bin ein Vollidiot!“ oder „Was bin ich für eine Arschgeige!“ sagte, war nichts Ungewöhnliches. Sich als „spießig“ zu bezeichnen, dass wäre hingegen niemandem in den Sinn gekommen. Wer dieses Wort anwendete, schaute stets durch das Fenster, nie in den Spiegel.

Jeder kennt die Herkunft dieses Begriffs: Der „Spießbürger“ war der Bauer oder der Mittelständler, der sich einen hölzernen Spieß als Waffe leisten konnte. Auch wenn preiswert, war dies eine gefährliche Waffe, mit der man den stolzesten beritteten Adligen zum Fall bringen konnte. Die Wohlgeborenen belächelten die Spießbürger dennoch, weil die Besitzer dieser Lanze zu den einfachen, bodenfesten Menschen zählten und nicht zu den vornehmen.

Kein Wunder, dass man bis Ende des 19. Jahrhunderts das Wort im allgemeinen Sprachgebrauch verwendete, um eine konservative Engsternigkeit zu bezeichnen. Der Schriftsteller Ödön von Horváth bezeichnete den Spießer in seinem Roman „Der ewige Spießer“ (1930) als "hypochondrischen Egoist, der danach trachtet, sich überall feige anzupassen und jede neue Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet." In diesem Sinne hatte auch ich Amerikaner das Wort kennengelernt, als ich 1975 nach Deutschland kam.

Es hat sich einiges inzwischen getan: Heute macht die LBS Werbung mit der Losung: "Du Papa – wenn ich groß bin, will ich auch mal Spießer werden!" Die LBS bietet an ihrer Webseite auch „Spießer-Starthilfe“ an. Spießer sein, wird ins Positive umgemünzt. Oder sehen Sie die linksgerichtete TAZ an. Sie möchte heute „Neospießer“ für die Zeitung interessieren. „Neospießer“? O-Ton-TAZ: „Sie haben Prinzipien: Genfood und Stammtischparolen kommen Ihnen nicht über die Lippen. Atomenergie ist schlecht, Globalisierung unfair, Umweltschutz und Multikulti nicht verhandelbar. Schwule sollen Ihretwegen heiraten, wenn sie es denn unbedingt wollen. Amerikanische Präsidenten und arabische Diktatoren sind wie Skylla und Charybdis. Für Ihr Klopapier wird verdammt noch mal kein lebender Baum gefällt. Und Brasilien spielt den schönsten Fußball.“ Auf der TAZ-Webseite kann ein Interessierter sogar prüfen lassen, inwiefern er selbst „Neospießer“-Eigenschaften besitzt.

Ein goldenes Zeitalter für das Spießertum bricht an! Man muss lediglich den Mut haben, lautstark einzugestehen: Ich bin ein Spießer.

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