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Wie ich zu dem "Lappen“ kam

"Schätzchen, gibst du mir bitte den Lappen“, sagte mir die liebe Jo, Mutter meiner damaligen Lebensabschnittsgefährtin, als wir in der Küche standen, während sie nach dem Abendessen abwusch. Wir schreiben das Jahr 1975.

"Lappen?“ erwiderte ich, Frischling in der deutschen Sprache, und blickte verdutzt drein. Gütig zeigte sie auf das erwünschte Tuch. "Ahh! Lappen!“ Es hat bei mir geschnackelt.

Ja, und? fragen Sie vielleicht und erwägen den erlösenden Mausklick, der Sie schnellstens nach YouTube weiter befördern wird.

Ich berichte aber von einem Aha-Erlebnis, einer Erleuchtung, "Satori“, wie die indischen Mystiker sagen. Denn ich erlebte in diesem Augenblick, als mir die liebe Jo den Lappen zeigte, genau das, was in einem Baby ständig vorkommt, wenn es eine Sprache lernt: Eine sinnliche Erfahrung prägte ein Wort ins Gedächtnis, so dass man es nie wieder – außer durch Krankheit – verlernen kann.

Erwachsene lernen Sprachen anders als Kinder. Ich zum Beispiel hatte bereits einen einjährigen Deutschkurs auf der Universität hinter mir, lange bevor ich daran dachte, nach Deutschland zu kommen. Auf eigene Faust hatte ich sogar 1974 „Der goldne Topf“ von E.T.A. Hoffmann gelesen – mit Wörterbuch, versteht sich. Vokabeln wie "Gemach“, "Gehrock“ und "Frauenzimmer“ habe ich mir durch diese Lektüre auf erwachsener Art eingeprägt. "Frauenzimmer“ hatte ich allerdings zuerst mit "Damentoilette“ übersetzt – das Gegenstück zum "Herrenzimmer“, so sinnierte ich, bevor ich mein Wörterbuch konsultierte.

In Deutschland angekommen, nahm ich mir nach kurzer Zeit vor, täglich mindestens einen Artikel in der Boulevardzeitung zu lesen. Ich setzte mir als Ziel, alle mir unbekannten Wörter aus dem Zusammenhang zu erraten, um den Text zu verstehen. Dies ist mir freilich nicht immer gelungen. Zum Beispiel das Wort "geraten“ bereitete mir besonders große Schwierigkeiten. Nachdem ich ihm abermals begegnet war, schlug ich endlich in meinem Wörterbuch nach. "Wind up“, "get into“ "land in“ waren die passenden englischen Übersetzungen. (Nota bene: Das sind englische Vokabel, die wiederum Gift für jeden Englischlernenden sind, weil sie so vielfältig ins Deutsche übersetzt werden können). Das Wort habe ich mir jedenfalls bis heute in Besitz genommen.

Doch auch wenn ich heute sehr wohl weiß, was ein "Frauenzimmer“ ist und im Bedeutungsfeld des "Geratens“ bestens imformiert bin, ist mir kein deutsches Wort so lieb und teuer wie der "Lappen“. Wenn ich diese Vokabel in den Mund nehme, denke ich stets an die liebe Jo, die es mir vor so vielen Jahren beigebracht hat.

Fazit: Wer gerne eine Fremdsprache lernen möchte, soll sich sich möglichst zu einem Kleinkind machen.

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