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Wie man Schriftsteller wird

Man kann es nicht oft genug einschärfen: Sprache ist kein stilles Wasser, sondern ein (meist) gemütlich fließender Strom. "Panta rhei“, "alles ist im Fluss“ sagte der schrullige griechische Philosoph Heraklit vor etwa 2500 Jahren. Wer heute Latein "loquiert“, wird morgen ganz bestimmt Spanisch "hablieren“ oder Französisch (bzw., Italienisch) "parlieren“. Das ist nunmal der Lauf der Dinge. Zu sehr darf man der Sprache und den Wörtern von gestern also nicht nachtrauern.

Dieses eiserne Gesetz gilt nicht nur für solche Begriffe, die man mit Stimmbändern, Kehle, Zunge und Lippe formiert. Auch Gesten und Gebärden sind stets im Fluss.

Beispiel: 1975 wurde ich in München bei Überquerung einer Straße von einem Raser beinahe über den Haufen gefahren. Spontan reagierte ich mit einer typisch amerikanischen Geste, die man im heutigen Deutsch als "Stinkefinger“ bezeichnet. "To flip the bird“ (jemandem den Vogel vorzucken) oder "give someone the finger“ sagen wir dazu. Mein Beinahe-Attentäter wird sicherlich seelenruhig in den Rückspiegel geschaut und mit den Achseln gezuckt haben. Denn meine feurige Geste war im Jahr 1975 in Deutschland so gut wie unbekannt.

Deutsche zeigten einem den "Vogel“, indem sie mit dem Zeigefinger "toktoktok“ an der Stirn machten. Heute ist der amerikanische "Vogel“ bzw. "Stinkefinger“ in Deutschland so heimisch wie das graue Eichhörnchen des nordamerikanischen Kontinents.

Ende der 70er Jahre las ich in einer Münchener Boulevardzeitung einen Artikel über einen Autofahrer (oder war es ein Fussgänger?), der angezeigt wurde, weil er jemandem – wohl aus berechtigter Wut – folgende Geste gemacht hatte: Mit aufgerichteter Hand formte er Daumen und Zeigefinger zu einem "O“. Diese Geste bedeutete damals eindeutig "Arschloch“. Was auch verständlich ist. Das "O“ soll ein Loch symbolisieren.

Nach meinem damaligen Verständnis hatte diese Geste einen ganz anderen Sinn. Für uns Amerikaner bedeutete sie "OK“ oder „prima!“. Zugegeben: Manchmal haben wir sie auch ironisch gebraucht, eine Art "ja, großartig hast du das gemacht!“. Ich habe mir aber damals Gedanken gemacht, ob auch ich angezeigt werden könnte, wenn ich jemandem diese Geste – im amerikanischen Sinn, versteht sich – vorführen würde. Glücklicherweise kam ich nie in diese Situation. Heute gilt diese Handbewegung in der Bedeutung von "Arschloch“ beinahe als altertümlich. Wann das genau passiert ist, kann ich leider nicht sagen. Das "O“ im Sinne von "OK“ hat sich jedenfalls seit langem in Deutschland eingebürgert.

Wie ist es zu dieser Verwandlung in der Gestensprache gekommen? Ich kann mich zwar nur auf Vermutungen stützen, gehe aber davon aus, dass die Unterhaltungsindustrie aus den USA (und aus England) hier eine maßgebende Rolle gespielt hat.

Klar ist jedenfalls, dass die Gestensprache ebenso im Fluss ist wie die gesprochene Sprache. Auch die Gebärdensprache der Gehörlosen bleibt nicht stehen. Hier bin ich kein Experte. Ich habe aber erfahren, dass Gehörlose in Norddeutschland nicht alle Gesten der Gehörlosen in Süddeutschland verstehen – und umgekehrt.

Was soll man daraus schließen? Unter anderem den folgenden Tipp für alle angehenden Schriftsteller/innen: Schulen Sie Ihr Ohr für die lebendige Sprache. Damit meine ich nicht, dass Sie sich nur des schnelllebigen „Istzustands“ der Sprache bedienen sollen. Doch ebenso sollen Sie nicht so tun, als würden Sie in einem anderen Zeitalter leben. Das Schönste: Sie dürfen selbst dazu beitragen, Ihre Sprache, Werkzeug ihrer Industrie und Fleißes, zu erneuern. Denn auch die Schriftsteller/innen spielen eine Rolle im Prozess des großen, natürlichen und unaufhaltbaren Bedeutungswandels.

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