Heute im Supermarkt beobachtet: Der Kunde dürfte Mitte bis Ende 30 sein, die Gesichtszüge eines Menschen kurz vor der sog. „midlife crisis“. Gekonnt positioniert er sein Phone aufs Kartenlesegerät an der Kasse, um Funkkontakt zu erzeugen. Ping! Erfolg.
„Sammeln Sie Treuepunkte?“ fragt die Kassiererin, eine sympathische Frau mit vifem Intellekt. (Das sage ich, weil ich sie seit langem kenne).
„Nein, ciao“, sagt der Mann sehr locker und geht.
Jungmenschlicher Ton, und ich war überzeugt, dass er die Kassiererin geduzt hätte, wenn im Austausch die 2. Person Singular angebracht gewesen wäre. Hier gab es keinen Grund dazu.
Und dann fiel es mir ein: Aha! Er ist einer von denen, die das Siezen kaputt machen, einer also, der überall und jedem duzt außer beim Kreisverwaltungsreferat oder im Gespräch mit einem Ordnungshüter oder dem Vermieter. Wir nennen ihn Martin.
Täglich erhält er Werbung von Notebookbilliger, MediaMarkt, Saturn usw., wo es heißt: „Hallo, Martin, suchst du einen neuen Rechner?“ Auch Google, Microsoft, Apple usw. sprechen ihn im gleichen Tonfall an. Und es macht ihm nix aus. Ja, ich kenne Martin. Er ist einer von denen, die das Siezen, den teuren Personenschutzmechanismus der deutschen Sprache, kaputt macht.
Das schlimme daran: Er ahnt dies nicht.
Nun schnell vorspulen, und zwar fünfzehn Jahre in die Zukunft. Martin arbeitet in der Finanzabteilung eines großen Versicherungsinstituts. Er ist mittlerweile Anfang fünfzig. Sein Chef – zufälligerweise heißt auch er Martin – ist Anfang dreißig.
Eines Montags betritt er Martins Arbeitszimmer. Martin macht zwar meistens „home office“. Montags aber geht er immer in die Firma.
Martin (hier meine ich den Vorgesetzten) betritt das Zimmer. „Servus“, sagt er schön locker.
„Servus“, antwortet Martin.
„Du, Martin“, sagt der junge Vorgesetzte, „Ich habe leider eine schlechte Nachricht für dich.“
„Oh?“
„Ja“, wir müssen dich leider kündigen.“
„Kündigen? Gibt‘s dafür einen Grund?“
„Weißt du, die da oben haben deine Stelle automatisiert. Du weißt, was man sagt: Roboter brauchen weder einen bezahlten Urlaub noch eine Kaffeepause. Tut mir leid, alter…“
Genug. Wir werden die Folgen dieser traurigen Geschichte nicht weiter erforschen. Diese Anekdote über Martin fällt mir heute ohnehin nur aus zwei Gründen ein: Erstens als Fantasie über den Typen an der Kasse im Supermarkt, und zweitens wegen eines Briefwechsels, den ich neulich mit MediaMarkt und mit Notebookbilliger geführt habe.
Bei beiden habe ich mich beschwert, weil ich in ihren Werbemails stets geduzt werde. Schließlich seien wir keine Freunde, schrieb ich, sondern lediglich eventuelle Geschäftspartner.
Notebookbilliger hat auf meine Mail nicht reagiert.
Immerhin eine Antwort von MediaMarkt. Sie lautet folgendermaßen:
„danke für Ihre Nachricht!
Es tut uns leid, dass Ihnen unser Schreibstil im Newsletter nicht gefällt.
Für uns steht die Beziehung zu unseren Kunden im Fokus. Deshalb haben wir uns für das „Du“ in unserem Newsletter entschieden.
Durch diese Ansprache ist unserer Meinung nach eine lockere und direkte Kommunikation mit unseren Kunden möglich.
Damit folgen wir einem Trend, der bereits in vielen Unternehmen gelebt wird.
Danke für Ihr Verständnis.“
Und nun wissen Sie, warum Martin von seinem Duzfreund gefeuert wird…
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Personenschutzmechanismus
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