Das Wort "Zocken“ habe ich erst als Erwachsener kennengelernt. Deutsche machen ihre Erfahrungen mit dieser Vokabel schon als Kinder.
Mir fiel sie das erste Mal auf, als ich vor vielen Jahren meine Kinder beobachte, als sie mit Pokemon-Karten "Fli-fla-flu“ spielten. Damals waren sie noch klein und hatten hohe Stimmen.
"Was macht ihr da?“ fragte ich.
"Wir zocken.“
Schneller Gang meinerseits zum Wörterbuch, um vor meinen minderjährigen Chargen die Illusion des Allwissens nicht zu gefährden. Das kam erst später.
Inzwischen weiß ich, dass das "Zocken“ und ich Gemeinsames teilen. Wir haben beide einen Migrationshintergrund. Ich kam 1975 als Fremder in München an, das "Zocken“ betrat circa 1870 als Bestandteil der damaligen Gaunersprache, des "Rotwelsch“, in Berlin die Sprachbühne. Das "Zocken“, genauer gesagt, das "S’chocken“ stammt ursprünglich aus dem Jiddischen und wird von einem hebräischen Wort "ssachek“, "spielen“ abgeleitet.
Wieso komme ich heute auf das "Zocken“ zu reden? Weil das Wort seit Wochen ständig in den Zeitungen steht – oft in seiner negativen Erscheinungsform als "Abzocken“ – meistens jedenfalls im Zusammenhang mit der weltweiten Wirtschaftskrise, die täglich für neue Schreckensmeldungen über Pleiten usw. sorgt.
In einer hochtechnisierten Welt wie der unseren, kann man sich leicht einbilden, dass man die komplizierten Zusammenhänge nicht versteht. So ist es mit der "Wirtschaftskrise“. Man befragt die Experten, die Ökonomen und dergleichen, um sich die Lage notdürftig erklären zu lassen, und meistens versteht man ohnehin nur "Bahnhof“.
Deshalb möchte ich Ihnen heute die Bedeutung von "Wirtschaftskrise“ erläutern. Man muss sich vorstellen, dass die Börse ein Spielkasino ist – nicht viel anders als die in Monte Carlo, Baden-Baden oder Las Vegas – und dass die "Banker“ (früher "Bankiers“) ganz normale Spieler sind. Sie zocken aber nicht mit Karten oder am Roulettetisch. Sie haben ganz andere Spielformen erfunden, um sich zu amüsieren. Die wichtigsten von ihnen werden "Derivate“ genannt. Zu Deutsch: "Abgeleitete Wertpapiere“.
Diese Tätigkeit klingt beinahe seriös, ist es aber nicht. Hier ein Beispiel von einem "Derivat“, das die Spieler als ein "Future“, zu Deutsch "Termingeschäft“, bezeichnen: Ich sage Ihnen, dass ein Kilogramm Weizen im März 2009 100 Euro kosten wird – viel höher als der jetzige Preis also. Dann verkaufen wir ein "Wertpapier“, das auf diesem fiktiven Preis basiert. Entweder gelingt es uns mit unserem Bluff bzw. Wunschdenken, den wirklichen Preis des Weizens in die Höhe zu treiben, oder das "Wertpapier“ wird zum Reinfall, und viele Menschen verlieren ihr Geld, wenn sie das Papier nicht rechtzeitig verkauft haben.
Mit solchen "Derivaten“ haben sich viele sehr seriös aussehende Menschen eine goldene Nase verdient. Doch leider klappt es im Kasino nur, solange richtige Wertsachen – zum Beispiel, Immobilien und die Herstellung von echten Dingen stabil bleiben. Wenn da etwas schiefgeht – über die "Subprimes“ habe ich schon einmal geschrieben (15. Februar 2008) – dann bricht das ganze Kartenhaus zusammen. Offenbar kann man mit einer goldenen Nase sehr schlecht riechen.
Lassen Sie sich mit komplizierten wirtschaftlichen Begriffen also nicht beirren. "Fli-fla-flu“ und "Derivate“ haben gewisse Ähnlichkeiten. Zwischen ihnen gibt es aber einen wichtigen Unterschied: Bei ersterem kann man richtige Pokemon-Karten gewinnen, beim letzteren bekommt man entweder Geld oder Luft – und oft stinkt sie.
Add new comment