Nicht jeden Tag habe ich Gelegenheit, in einem netten Hotel in Charlotte, North Carolina, Gedanken über Sprache nachzugehen. In Deutschland ist es bereits Dienstag circa 4.30. Charlotte hinkt sechs Stunden hinterher. Für mich ist es also noch Montag. Ein Beweis, wie sehr die Dinge relativ sind und wie müde ich bin.
Ich befinde mich nur zufällig in Charlotte, genauer gesagt, aufgrund eines "maintenance issue“ – zu Deutsch eines Wartungsproblems. Eigentlich hätte mein Anschlussflug nach Phoenix, Arizona um 17.45 Ortszeit abheben sollen. Als man aber feststellte, dass besagtes "maintenance issue“ nicht zu beheben und keine Ersatzmaschine verfügbar war, bot man uns gestrandeten Passagieren großzügigerweise eine kostenlose Übernachtung in Charlotte. Ein faires Angebot. Schade, dass ich diese Stadt nur nachts erlebe. Ich habe gehört, sie sei sehr hübsch. Morgen früh um sechs Uhr muss ich aber zum Flughafen zurück.
Ursprünglich gedachte ich, über dem Atlantik diesen Text zu schreiben – ein rasender Reporter im wahrsten Sinn. Dieses Vorhaben gab ich aber schon frühzeitig auf. Nicht nur weil ich mich in Flugzeugen stets sehr mulmig fühle, sondern weil sich der Mann, der direkt vor mir saß, so extrem zurückgelehnt hatte, dass er mir mit seiner Rückenlehne, beinahe die Brustkorb erdrückte.
Über den Sprachwandel wollte ich schreiben. Passend zu einer Reise, nicht wahr? Denn kurz vor meiner Abreise hatte mir meine Frau etwas Interessantes zu diesem Thema erzählt.
Sie berichtete von einem Artikel meines Kollegen Tobias Hürters in der Zeitschrift PM (11/08). Leider hatte ich den Text noch nicht gelesen. Nach Auskunft meiner Frau ging es darum, dass man in hundert Jahren mit großen Veränderungen in der deutschen Sprache zu rechnen habe. Sie zitierte als Beispiel, dass das umgangsprachliche "ham“ bis dahin das gewöhnliche "haben“ ersetzen könnte. Dieses Phänomen kennt man freilich aus anderen Sprachen. Über das "Gesetz der Mundfaulheit“ habe ich selbst einmal ausführlich geschrieben (15.12.06). Man denke an den englischen Familiennamen "Stuart“ bzw. "Stewart“. Er entstammt einer angelsächsischen Vokabel, deren deutsche Entsprechung "Stallwart“ lautet. Das Gesetz der Mundfaulheit hat aber aus einem "Stallwart“ einen "Stuart“, "Stewart“ oder auch „Steward“ gemacht. Oder denken Sie ans französische "parler“ (sprich "par-lej“) – eigentlich eine Vernuschelung des lateinischen "parabolare“. Es gibt abertausend Beispiele. Wirklich. Gegen die These des Kollegen Hürter also nichts einzuwenden.
Jedenfalls meinerseits. Meine Frau war aber anderer Meinung: "Vielleicht war es früher mal so“, sagte sie mir, "ich bezweifele aber, dass der Sprachwandel noch immer so schnell vonstatten gehen könnte. Schließlich gibt es heute die standardisierte Schriftsprache. Man hat also mit zwei ebenbürtigen Sprachebenen zu tun: einer Schrift- und einer Umgangssprache. In der Schule wird nur erstere gebüffelt.“
Natürlich hat sie recht. Erst nach unserem Gespräch – ich saß schon im Flugzeug – ist bei mir der Groschen gefallen. Ich habe endlich verstanden, was die Schriftsprache von der Umgangssprache unterscheidet: Erstere ist ein künstliches, konservatives Phänomen, das einen früheren Stand der Sprache am Leben hält – auch wenn es selbst stets im Wandel begriffen ist.
Die Umgangssprache hingegen widerspiegelt stets den Istzustand der Sprache. Sie ist eine lebendige Vielfresserin (auch wenn sie freilich Züge der Schriftsprache mitfrisst), der auch Fremdwörter gut schmecken. Wer weiß also, wie diese Sprache in 100 Jahren aussehen mag.
Ähnliches kennt man übrigens aus dem Lateinischen. Im 5. Jahrhundert n.Chr. hat man (mit Einschränkungen) noch immer die altgediegene Schriftsprache Ciceros geschrieben. Auf der Straße war man längst zum Urfranzösischen, Uritalienischen und Urspanischen übergegangen. Erst der Zusammenbruch Roms machte der alten Schriftsprache den Garaus.
Fazit: Die Deutschlehrer(innen) werden in absehbarer Zeit doch nicht arbeitslos.
Aber jetzt bin ich müde. Ich gehe schlafen und poste dieses Andenken an Charlotte aus Phoenix.
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