Hilfe! Die deutsche Sprache hat mich in ein Kellerverlies eingesperrt. Nun bekomme ich nur Wortsalat zu essen.
Ja, und hinter einer Trennwand sind wohl andere Gefangene, und man hat ihnen Wortketten angelegt. Ich höre das Rasseln der Ketten, sehe aber niemanden. Es ist hier dunkel wie Druckerschwärze. Wortfetzen fliegen mir um die Ohren. Meistens sind es Endungen und Artikel – kommt mir jedenfalls so vor. Ich verstehe aber nichts davon.
Ich weiß nicht einmal, was ich verbrochen habe. Nein, stimmt nicht. Ich weiß es sehr wohl. Es geht darum, dass ich, weil ich diese Fremdsprache erst in erwachsenen Jahren gelernt habe, überdurchschnittlich gegen die Sprachgesetze verstoße. Jetzt habe ich den Salat.
Kinder sind zu beneiden – auch ausländische Kinder. Sie gehen in die Schule, werden von Lehrern und Lehrerinnen ganz schön traktiert, benotet, bedroht, geliebkost, umschmeichelt und bisweilen auch gelobt, bis sie mehr oder weniger in der Lage sind, diese Sprache mehr oder weniger unauffällig zu sprechen.
Ich hingegen bin nicht einmal in der Lage „Vorstandsvorsitzender“ von „Vorstandsvorsitzende“ zu unterscheiden. Wer meinen Beitrag von letzter Woche frühzeitig gelesen hat, der hat diese arge Verwechselung schon vorgefunden.
Mein auf eigenen Wunsch anonymer Sprachguru hat mir nach Erscheinen besagten Beitrags eine Mail mit Korrekturen geschickt. Das macht er jede Woche. Er wies darauf hin, dass mein „Vorstandsvorsitzende“ in richtigem Deutsch ein „Vorstandsvorsitzender“ sei. Ausgerechnet musste dieses Wort eine so profilierte Rolle in meinem Dialog spielen. Peinlich peinlich.
Ich war untröstlich, als ich die Nachricht bekam, und schrieb an meinen Sprachguru Folgendes: „Ich verstehe diese Sprache nicht. Ein Mann aus Frankreich ist ein Franzose und nie und nimmer ein ‚Franzoser’. Den Italiener darf man aber, wenn er Subjekt eines Satzes ist nicht als ‚Italiene’ bezeichnen. Wer soll das alles kapieren?“ Mit anderen Worten: Wann wird ein Mensch „r“haftig und wann „r“los? Für mich ist die Sache mit den Endungen meistens nur erschöpfend.
Und noch ein Problem: In meinem Dialog sagt der Tod mit Schwert in der Hand: „Ich halte es [also das Schwert] über deinem Gesicht“. Nein, schreibt mir mein Sprachguru: Es müsse „Ich halte es über dein Gesicht“ heißen. Akkusativ also, nicht Dativ. Aber wieso? fragte ich. Denn als braver, angepasster Ausländer, habe ich mir wirklich Mühe gegeben, diese Konstruktion richtig zu formulieren. Ich habe mir nämlich die Frage gestellt, bevor ich den Satz in den Rechner getippt habe: „Wo hält er das Schwert?“ Antwort: „Über seinem Gesicht.“ Woher soll ich wissen, dass man sich fragen müsse: „Wohin hält er das Schwert?“. Wohin? Woher!
Unfair, sog i. Unfair! Ich bin an dem Nachmittag ins Paradies gegangen. Sie wissen schon, mein Lieblingsobstgeschäft und habe – von düftenden Südfrüchten und Erdbeeren umkreist – Frau M. mein Leid vorgejammert. „Ja“, sagte sie nachdenklich, „Man hält das Schwert vor sein Gesicht.“
„Das verstehe ich nicht“, antwortete ich.
„Ja, so sagen wir es.“
Notabene: Frau M. sagte hier „wir“. Und sie hatte auch recht. Ich zähle letztendlich nicht zu diesem „wir“.
„Die deutsche Sprache ist ausländerfeindlich!“ antwortete ich. Die Worte fluschten aus mir spontan heraus. „Und wie ist es mit ‚schauen’?“ fragte ich. „In meinem Beitrag schaute einer ‚hinter dem Vorhang’. Ich habe mich sogar, bevor ich die Worte schrieb, gefragt: Wo schaut er? Hinter dem Vorhang! Doch mein Sprachguru meinte, es müsse ‚hinter den Vorhang’ heißen.“
„Ja, richtig. ‚Schau hin, hinter den Vorhang’. Das sagt man halt.“
„Unfair. Wirklich unfair.“
Aber genug gejammert. Außerdem hat niemand Mitleid mit einem Jammerer. Wir sagen – ich meine hier, wir Englischmuttersprachler: „Laugh and the whole world laughs with you, cry and you cry alone.”
Trotzdem noch eine letzte Bemerkung. Am Anfang dieses Gezeters habe ich – vielleicht können Sie sich noch daran erinnern – behauptet, dass mich die Deutsche Sprache in ein Kellerverlies eingesperrt habe. Meine Frage: In den, in dem Kellerverlies? Ja, ich war verunsichert. Aber stellen Sie sich vor: Nach Duden habe ich in diesem Fall die Wahl: Die deutsche Sprache kann mich also „in ein“ oder „in einem“ Kellerverlies einsperren.
Meine Frage: Welche Art des Eingesperrtseins wäre für mich am ende günstiger?
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