Vielleicht kennen Sie die Situation. Das Telefon klingelt, Sie heben ab. Jemand spricht Sie mit aller Vertrautheit an und erkundigt sich nach Ihrem Wohlergehen. Nur, Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sprechen. Die Stimme sagt Ihnen nichts.
Ich bin überzeugt, dass jeder dieses Erlebnis gehabt hat. Oft lässt sich das Phänomen leicht erklären: Der Anrufende ist vielleicht verschnupft, müde, heiser, niedergeschlagen usw. und klingt halt anders; oder der Angerufene hat einen schlechten Tag, ist unkonzentriert oder kennt mehrere Menschen mit dem gleichen Namen und bringt sie durcheinander.
Es gibt aber auch Leute, die die Stimme anderer - auch die ihrer Vertrautesten – gar nie erkennen. Das heißt: Auch wenn sich das eigene Kind, Mutter oder Ehepartner telefonisch meldet, sind sie nicht in der Lage, die Tonlage des Sprechenden mit einem bekannten Menschen in Zusammenhang zu bringen. Sie können Fremde und Intime nicht unterscheiden.
Nun habe ich erfahren, dass dieses Phänomen einen Namen hat: "Phonagnosie“, was soviel wie "Klangignoranz“ heißt. Ich habe darüber vor ein paar Tagen in der landesweit verbreiteten amerikanischen „easy reading“ Zeitung "USA Today" gelesen.
Kollegin Rita Rubin, Autorin des Artikels, zitiert eine Studie des britischen Fachjournals "Neuropsychologia“, in dem über das Schicksal der sechzigjährigen Managementberaterin K.H. erzählt wird, die wohl mit diesem Wahrnehmungsmangel auf die Welt gekommen ist. Ich nehme an, dass dieses Defizit ähnlich zu bewerten ist wie die Farbblindheit, die übrigens von der Wissenschaft als "Farbagnosie“ bezeichnet wird. Die "Agnosie“-Familie ist übrigens ziemlich groß. Zu ihr zählt auch die "Prosopagnosie“ – die Unfähigkeit Gesichter zu erkennen – und die "Gegenstandsagnosie“, das heißt, das Unvermögen Gegenstände als die eigenen wieder zu erkennen.
Was Frau K.H. betrifft: Laut dem Londoner Neurologen und Psychologen Dr. Brad Duchaine – er ist einer der Autoren besagter Studie aus der "Neuropychologia“ – ist sie wohl der erste Mensch, bei dem dieses Wahrnehmungsdefizit einwandfrei diagnostiziert wurde. Frau K.H. macht also Geschichte. Doktor Duchaine und Co. sind bestimmt erfreut, ein neues Syndrom aus dem Boden gestampft zu haben und ihm überdies einen Namen verpasst zu haben. Und vielleicht fühlt sich Frau K.H., nachdem sie ein ganzes Leben mit ihrer Behinderung zu kämpfen hatte, endlich ernst genommen. Natürlich hat sie sich längst Strategien ausgedacht, um mit ihrem Problem fertig zu werden. Zum Beispiel, sie geht nur ans Telefon , wenn sie vorher mit jemandem eine Uhrzeit für ein Gespräch vereinbart hat.
Sie ist allerdings in der Lage, Männer- von Frauenstimmen zu unterscheiden. Ebenfalls erkennt sie die Gefühlslage eines Gesprächspartners. Sie ist lediglich unfähig, die Identität eines Menschen anhand seiner Stimme zu fixieren. Pardon. E i n e Stimme könne sie wohl aus der großen klangenden Menge herauspicken: die des schottischen Schauspielers Sean Connery. Fragen Sie mich bitte nicht, wieso.
Doktor Duchaine und Co. suchen jetzt nach dem Gen, das dieses Defizit verursacht. Viel Glück.
Während ich diese Gedanken skizziere, sitze ich auf einer mit Fliegengitter eingeschlossenen Terrasse, "Arizona room“ genannt. Die Abendluft ist frisch. Draußen flitzen Hasen und Wachteln vorbei. Kakteen und blühende Oleander umgeben mich. Im Orangenbaum direkt vor mir zwitschern die Vögel aufgeregt. Ich weiß nicht, was das für Vögel sind, sie sind jedenfalls schwarz und ein bisschen amselähnlich. Es sind aber eindeutig schlanke Wüstenvögel. Mir fällt spontan ein, dass, wenn Frau K.H. einer dieser Vögel wäre, sie wirklich zu leiden hätte. Denn sie wäre bestimmt nicht in der Lage, das Zwitschern der eigenen Artgenossen von dem der anderen Vögel zu unterscheiden. Das kann in der Tierwelt tödlich sein.
Als Mensch hat sie hingegen, was die Verständigung betrifft, gewisse Ausweichmöglichkeiten, die einem Tier nicht zur Verfügung stehen. Sie kann jederzeit sagen: "Sorry, ich kann Stimmen schlecht unterscheiden. Mit wem rede ich, bitte?“
In diesem Fall Vorteil: Mensch. Frau K.H. kann trotz ihrer Behinderung also bestens überleben, und Dr. Duchaine und Co. haben womöglich einen neuen genetischen Defekt entdeckt und damit Chancen auf ein Forschungsstipendium. Manchmal ist das Leben halt rundherum schön.
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