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Speaking German

Wer war wohl Charlie Morris? Nur wenige Anhaltspunkte zu seiner Person kann ich hier anbieten. Etwa: dass er aus der Kleinstadt Tecumseh, Nebraska stammte und dass er Deutsch lernte – ob freiwillig oder gezwungenermaßen vermag ich nicht zu sagen. Diese paar Fakten folgere ich, weil ich gestern sein Exemplar des Buches "Learning German“ für einen Dollar antiquarisch ergattert habe. Seine optimistisch wirkende Unterschrift am Titelblatt scheint aber Bände zu sprechen.

"Learning German“ erschien 1948. Ich nehme an, dass Charlie Morris das Buch damals als Student erworben hat. Die Autoren, Frederick J. Schmitz und William Kurth, waren beide Professoren an der Universität von Arizona. Vielleicht hat Charlie dort studiert.

Ich mag die Aufmachung dieses Lehrbuchs. Nach einer kurzen Einführung über Aussprache, legen sich die Autoren gleich ins Zeug. Es folgen auf etwa 70 Seiten richtige deutsche Texte, davon die Hälfte in Fraktur. Auf diesen Textblock folgt ein grammatischer Teil und am Schluss eine Wortliste.

Ich finde es klug, dass man von Anfang an richtige Lesetexte zu studieren bekommt. Dadurch wird der Kontakt zur neuen Sprache unmittelbar. Wenn ich ein ähnlich handliches Buch für Russisch, Tschechisch oder Neugriechisch fände, würde ich mich freuen.

Überdies hat "Learning German“ meine Aufmerksamkeit aus einem anderen Grund gefesselt. Es hat in mir Erinnerungen wachgerufen, wie es ist, wenn man mit Deutsch als Fremdsprache zum ersten Mal konfrontiert wird.

Ich erinnerte mich, wie ich einmal als Schüler ein Klassenzimmer betrat, in dem gerade Deutsch unterrichtet worden war. Noch konnte man auf der Tafel die meilenlangen Wörter lesen, die aus unzähligen Konsonanten bestanden. Ich war froh, dass ich Französisch als Fremdsprache gewählt hatte. Jeder sagte damals, dass Deutsch "kehlig“ und unfreundlich klinge. Als ich etwas älter war, erfuhr ich, dass Deutsch eine beugungsreiche Sprache sei wie Latein und Altgriechisch. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass man eine so staubige Sprache in der heutigen Zeit noch sprechen konnte/wollte/sollte.

Nun stellte ich mir Charlie Morris vor, als er sein "Learning German“ zum ersten Mal aufschlug und beliebig durchblätterte. Auf einer Seite entdeckte er "wer, wessen, wem, wen“; auf einer anderen "dieses großen Baumes“, "diesem großen Baum“ usw. Stöhnte er gleich? Und wie reagierte er auf die in Fraktur geschriebenen Texte? Es muss wohl reines Mittelalter für den jungen Amerikaner gewesen sein.

Und was sagte er zum folgenden Übungstext aus "Learning German“: "Also sangen wir, aus der Stimmung des Augenblicks heraus und aus dem Gefühle des gemeinsam Erlebten, des gemeinsamen Schicksals.“?

Als Charlie Morris Student war, belegten hauptsächlich angehende Altphilologen und Philosophen Deutschkurse, Eierköpfe also. War Charlie ein Eierkopf?

Ich als Student der Altphilologie war ganz bestimmt einer. Wir mussten Grundkenntnisse des Deutschen erwerben, weil wir uns in der "Pauly-Wissowa Realenzyklopädie der klassischen Wissenschaft“ wohlfühlen sollten. Es dauerte Monate, bis ich überhaupt den Titel aussprechen konnte.

Mein damaliges Lehrbuch war jedenfalls um einiges "moderner“ als „Learning German“. Es war reichlich bebildert und erzählte von Kapitel zu Kapitel eine aufregende Fortsetzungsgeschichte: das Abenteuer des amerikanischen Austauschstudenten Tom Evans, der bei der Familie Thiele in München wohnte und sich in die Tochter verknallte. Ich gebe zu: Manche Wörter haben mir damals große Schwierigkeiten bereitet. "Geschwindigkeitsbegrenzung“ fällt mir noch ein – "speed limit“ auf Englisch. Noch heute erinnere ich mich an zwei Sätze aus diesem Buch: 1) "Ich habe einen riesigen Hunger“ und 2) "Die Bayern sind Lokalpatrioten“.

Die Vorstellung, dass sich Menschen auf Deutsch unterhielten, kam mir derzeit utopisch vor.

Und Charlie Morris. Hat er mittels "Learning German“ die schwierige Fremdsprache gemeistert? Wer weiß. Man findet allerdings auch Geheimnisvolles in seinem Exemplar. Er hatte nämlich in der Wortliste eine kleine Anzahl von Vokabeln mit Bleistift unterstrichen: "Bitte“, "braten“, "Dame“, "euer“, "Liebe“, "lieben“, "Mutter“, "nein“. Warum ausgerechnet diese Wörter? Wollte er vielleicht eine erste wichtige Mitteilung in der Fremdsprache verfassen? Wir werden die Antwort leider nie erfahren.

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