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Krieg um die Kirchentürme

Ich habe C. Landsgesell und J. Lenders, Reportern der Münchner Abendzeitung  Peinlichkeiten erspart. Nur wissen sie nichts von ihrem Glück.

In einem Artikel vom 1. Oktober berichteten sie von einer sich anbahnenden Protestaktion am Münchener Orleanplatz, wo ein Bestand von alten Bäumen dem neuen Tunnel der „zweite S-Bahn-Stammstrecke“ weichen werden. Anwohner der Gegend seien aufgebracht. Neben der Entstellung des Platzes kämen  nämlich bald auch Lärm, Staub und erhebliche Nachteile für die dortigen Geschäfte auf sie zu. Wer möchte sechs Jahre lang eine Baustelle vor der Tür haben?

In Anbetracht der großen Proteste in Stuttgart befürchteten manche in München einen ähnlichen Volksaufstand. Ein gewisser Walter Heldmann von der Bürgerinitiative „S-Bahn-Tunnel Haidhausen“ beteuere, so Reporter Landsgesell und Lenders, dass die Haidhauser keine Kirchturmpolitik betrieben…

Stopp. Über diese spannenden Ereignisse in München erfahren Sie von mir kein Wort mehr. Mir geht es um die „Kirchturmpolitik“. Denn mir war dieser Begriff bisher unbekannt.

Was tut der gebildete Mensch, wenn er ein Wort nicht einordnen kann? Er schlägt in seinem Wörterbuch nach. Das habe ich auch getan. Zunächst in meinem Duden Univeralwörterbuch Da fand ich aber nichts. Nichts! Blödes Wörterbuch!

Nun schaute ich in mein sechbändiges Duden. Wieder nichts. Nichts! Scheiß Duden. Ich war entsetzt.

Was muten sich diese zwei Clowns Landsgesell und Lenders zu? dachte ich mit dem Zorn des Gerechten. Sie verwenden einen Begriff, den nicht einmal der Duden kennt. Es war ein Samstag. Sonst hätte ich gleich an sie eine böse Mail abgefeuert. Die böse Mail bekommen sie am Montag, dachte ich genüsslich.

Aber nochmals Stopp. An dieser Stelle muss ich etwas wagen, womit man normalerweise eine Geschichte gegen die Wand fährt. Ich muss Ihnen die lustige Pointe verraten, bevor ich die Story zu Ende erzählt habe. Jedes anständiges Stilhandbuch würde mich hier mit Sitzenbleiben bestrafen.

Fakt ist: Meine ganze Entrüstung beruhte auf einem Missverständnis meinerseits. Als hastiger Leser und obendrein mit dem imperfekten Gehör des Migrationshintergründlers hatte ich mir eingebildet, dass ich „Kirchenturmpolitik“ und nicht „Kirchturmpolitik“ gelesen hätte.

Ich bitte diese Pointe jetzt umgehend zu vergessen. Denn sie kommt wieder – das nächste Mal an der richtigen Stelle.

„Weißt du, was Kirchenturmpolitik ist?“ fragte ich meinen Sohn. Er ist immerhin Deutscher und Muttersprachler.

„Nein, noch nie gehört“, antwortete er.

„Ha!“, triumphierte ich. „Diese Abendzeitung springt mit Begriffen um, die keiner kennt!“

Was ich vergessen habe zu erzählen: Ich hatte inzwischen „Kirchenturmpolitik“ gegoogelt und bescheidene drei Treffer geerntet. Allerdings hatte ich auch diesmal die Treffer viel zu hastig gelesen. Bei zwei von ihnen – einer davon ein Beitrag aus „Wikipedia“ – war das Wort sogar richtig geschrieben. Nur einmal im ganzen Internet (mit dieser Glosse wird es künftig zweimal sein) findet der Interessierte ein Wort „Kirchenturmpolitik“. Immerhin gab „Wikipedia“ eine Definition für den Begriff an. Etwa: eine Politik, die eine eng umgrenzte Zielgruppe bevorzugt.

„Vielleicht hat es mit dem fanatischen Hinausposaunen einer Idee von einem Kirchturm zu tun“, mutmaßte mein Sohn. Meine Frau, die den Begriff ebenfalls nicht kannte, äußerte sich ähnlich.

„Nein, aber fast“, antwortete ich mit der Überheblichkeit des Gerechten. Dann schilderte ich meine vergebliche Suche nach dem Wort und meine Entdeckung der mickrigen drei Treffer im Internet. „Wie kann man so einen unbekannten Begriff in einer Boulevardzeitung ohne Erklärung benutzen!!?“

Drei Minuten später kehrte mein Sohn zurück. Und jetzt, liebe Leser, erzähle ich die heitere Pointe zum zweiten Mal: „Du spinnst. Ich habe eben 250.000 Treffer gefunden. Außerdem heißt es ‚Kirchturmpolitik’ und nicht ‚Kirchenturmpolitik’. Kein Wunder, dass du nichts gefunden hast.“

„Dann haben diese Dusselköpfe von der AZ das Wort falsch geschrieben.“

Es war nicht so, und gleich fand ich die Kirchturmpolitik in allen Wörterbüchern – der Begriff ist übrigens eine Erfindung Bismarcks.

Kollegen Landsgesell und Lenders haben von mir keine Mail erhalten. Ich habe ihnen eine Peinlichkeit erspart: auf eine entrüstete Mail eines Ignoranten antworten zu müssen. Immerhin habe ich Ihnen nun eine Geschichte erzählt, die den Ursprung mindestens 95% aller Konflikte der Menschengeschichte veranschaulicht.

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