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Zu Weihnachten schenke ich China tausend bunte Zungen!

Es weihnachtet, aber ich denke nur an Zungen.

In vielen Sprachen – z.B. im Englischen – bedeutet dieses Wort nicht nur das fleischige Organ im Mund, sondern „Sprache“ schlechthin. Das weiß doch jeder. Nur im Deutschen ist es anscheinend nicht so – außer vielleicht in Verbindungen wie „spitze“, „lose“, „böse“ usw. Zunge.

Mein Schicksal ist es in der Schwiegermuttersprache, also in der „German tongue“, zu schreiben, was für mich persönlich bedeutet: „englische Zunge“ ade. „Englische Zunge“. Klingt wie eine Krankheit oder vielleicht etwas aus dem Feinkostgeschäft.

Mmmmm, Zunge! Als Kind habe ich geräucherte Zunge für mein Leben gerne gegessen – vor allem als Sandwich auf Mischbrot und mit scharfem Senf. Schmackofatz.

Irgendwie unbeschreiblich die Beschaffenheit des Zungenfleisches, weil weich (ohne Fasern) und fest zugleich. Genau wie die Sprache!

Wieso beschäftigt mich heute  die Zunge so sehr? Weil ich neulich in der International Herald Tribune einen Kommentar mit dem Titel „Words on trial in Beijing“, also „Worte in Peking vor Gericht “, gelesen habe.

Es ging um die üblichen Scheußlichkeiten zum Thema Redefreiheit in China. In diesem Fall das Schicksal des Liu Xiaobo, 48 Jahre alt. Seit der grausamen Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 am Platz des Himmlischen Friedens hat es Herr Liu nicht einfach. Er setzt sich immer wieder für die Redefreiheit ein und hat deshalb schon mehrere Jahre im Gefängnis verbracht. Nun drohen ihm wieder fünfzehn Jahre hinter Gittern, weil er 2008 Gründungsmitglied der „Karta 08“ wurde. O-Ton Karta 08: „Wir sollten die Redefreiheit, die Pressefreiheit und die akademische Freiheit universal machen, um zu gewährleisten, dass Bürger informiert bleiben und ihre politische Kontrollfunktion ausüben können…“

Starker Tobak in China.

(„Karta 08“. Der Name lässt an „Karta 77“ denken. Erinnern Sie sich noch an diese Menschenrechtsbewegung in der damaligen Tschechoslawakei? Längst haben die Gründungsmitglieder der „Karta 77“ führende Rollen in der Tschechischen Republik übernommen. Vielleicht wird der momentan malträtierte Herr Liu eines Tages Präsident Chinas?)

Aber zurück zu den Zungen. Im selben IHT-Kommentar erzählt Autor, Jonathan Mirsky, Journalist und Chinaexpert, vom Schicksal der mutigen Zhang Zhixin. Frau Zhang, 1930 geboren, hat ihrerzeit sehr gelittten. Weil sie die Übermacht Maos in Frage gestellt hatte, musste sie lange Gefängnissstrafen absitzen. Als sie 1975 schließlich zum Tod verurteilt wurde, hat man ihr vor der Hinrichtung, so Mirsky, die Stimmbänder durchgeschnitten. Das sollte sie daran hindern, im letzten Augenblick Unpatriotisches zu artikulieren. Die Zunge sollte buchstäblich verstummen.

Ich kann für die Wahrheit dieser Geschichte allerdings nicht bürgen, denn ich habe auch Varianten gelesen. Trotzdem ein starkes Bild. Nebenbei: Im heutigen China wird die Hinrichtung Frau Zhangs auch ex officio als Verbrechen gesehen.

Frau Zhangs Schicksal hat mich aber an die ideologischen Streitigkeiten in der frühen Kirche erinnert. Leider habe ich die Details vergessen. Es ging jedenfalls um hitzige Auseinandersetzungen, ob, zum Beispiel, Jesus „gottähnlich“ oder „gottgleich“ sei oder um Formulierungen im Glaubensbekenntnis. Ich erinnere mich nur, dass die Anhänger der einen Meinung die Anhänger der anderen Meinung endgültig zum Verstummen gebracht haben, indem sie ihnen die Zungen herausschnitten. Auch ein unvergessliches Bild.

Und noch ein Gedankensprung: Ich denke an die Ausrottung der Omaijaden durch die Abbasiden um das Jahr 750. Wenn ich die Fakten noch richtig im Kopf habe, hat Abbas (Gründer des neuen Kalifats) die Rivalen des bisherigen Omaijadenkalifats zu einem Versöhnungsfest eingeladen, in dessen Verlauf er allen Omaijaden die Kehle durchschneiden ließ. In diesem Fall ging es freilich nicht um die Redefreiheit, sondern allein um die Macht .

Aber genug der Gruselgeschichten, die ich ohnehin nur ganz verschwommen wiedergebe. Bald haben wir Weihnachten. Die Tage werden wieder länger, und das Licht deckt – wie immer – alles auf, was man in der Dunkelheit hätte verheimlichen können.

Wie sagt man „frohe Weihnachten“ auf Chinesisch?

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