Papier ist geduldig, sagt man so schön. Das soll bedeuten, dass ein Mensch einem Blatt Papier alles anvertrauen kann, was er aus welchem Grund auch immer in aller Schnelle in der Öffentlichkeit nicht auszudrücken vermag.
Papier? Noch nie davon gehört? Im Zeitalter des "Podcasting“, des "Hörbuchs“ und vor allem der wachsenden Wikigootubisierung der Welt, scheint das gewöhnliche Papierblatt in der Tat allmählich aus der Mode gekommen zu sein.
Folgende Frage richte ich an jene Zufallsleser/-leserinnen, die jünger als, sagen wir, 20 sind: Wann haben Sie das letzte Mal einen richtigen Brief geschrieben? Wissen Sie überhaupt, wie ein Kuvert zu adressieren ist? Die Frage ist ernst gemeint. Wer diese Fähigkeiten noch nicht gemeistert hat, muss sich nicht schämen. Junge Menschen schreiben ja kaum mehr Briefe.
Worauf will ich hinaus? Die Schriftkulturen bilden – geschichtlich betrachtet – eine relativ neue Etappe des Menschwerdens. Wenn ein Mensch schriftkundig wird, beherrscht er zwei Fähigkeiten: Das Lesen ist etwas Passives, das Schreiben ist dagegen etwas Aktives. Ich behaupte, dass im neuen IT-Zeitalter das Schreiben, sprich: die aktive Fähigkeit, zunehmend vernachlässigt wird. Genauer gesagt: Viele junge Menschen können kaum mehr richtige, zusammenhängende Sätze aneinander reihen.
Vielleicht ist dies nicht einmal so tragisch. Jahrtausende lang waren die meisten Menschen weder schreib- noch lesekundig.
Doch: Was unterscheidet eine Schriftkultur von einer schriftlosen Kultur? Antwort: Schriftlose Völker verharren in einer mythologischen Wirklichkeit. Sie erfassen die Welt am besten mit Hilfe symbolischer Göttergeschichten. Durch Mythen wird auch die Vergangenheit gespeichert, verarbeitet und tradiert. Sie wissen, was ich meine: "Als die Götter unseren Stamm schufen, lebten wir als Kängerus usw.“
Aber: Sobald die Menschen einer mythologischen Kultur eine Schrift erfinden – was mehrmals in der Vergangenheit geschehen ist – passiert etwas Sonderbares unter den Schriftkundigen: Der Mensch, der schriftkundig wird, beginnt logisch zu denken. Jawohl. Um die Schrift zu erfassen, muss das Hirn ganz neue Funktionen aktivieren. Fakt ist: Das Logischdenken wird dem Menschen nicht in die Wiege gelegt. Es wird allein durch das Lesen und Schreiben erlernt.
Zeige ich Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, zwei unterschiedlich geformte Becher, den einen hoch dafür aber schmal und bis zum Rand mit Wasser gefüllt, den anderen sehr breit dafür aber etwas tiefer stehend und nur halb gefüllt, und frage ich Sie, welcher der zwei Becher mehr Wasser enthält, so würden Sie diese Frage als reine Messaufgabe deuten. Ein mythologisch wahrnehmender Menschen würde hingegen spontan antworten: Der schmale Becher enthält mehr Wasser, weil er randvoll ist. Somit sehen Sie den Unterschied zwischen dem mythologischen und dem logischen Denken.
Ich arbeite zwar nich im Auftrag der Post, ich würde Ihnen dennoch nahe legen, es wieder zu versuchen, schöne, einwandfreie, deutsche Briefe zu schreiben, bevor sie diese hart erkämpfte Kulturerrungenschaft ganz verlernt haben.
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