Heute ein heikles Thema.
Meine Frau, Mitgestalterin einer technischen Fachzeitschrift, erzählte mir vor einigen Tagen Folgendes: Eine Kollegin hatte einen Text mit der Überschrift "Jedem das Seine" versehen und der Schlussredaktion weiter geleitet. Diese schickte ihr das Manuskript umgehend zurück und forderte eine Änderung. Die Überschrift könne man so nicht verwenden, hieß es, sie sei ein Nazispruch.
Nazispruch? Wie ich selbst bald entdeckte, standen diese Worte auf einem Gusseisentor im Konzentrationslager Buchenwald. Lesbar waren sie nur von innen. Das heißt: Die Gefangenen des KZs hatten sie täglich vor Augen. Ohne Zweifel ein grausamer Hohn.
Da ich aber das mit den Nazis bis dahin selbst nie gewusst habe, so hätte ich bestimmt den selben Fehler begangen wie die Kollegin meiner Frau. "Jedem das Seine" hatte ich nämlich stets als Entsprechung der englischen Floskel, "To each his own“, verstanden. Zur passenden Gelegenheit habe ich über die Jahre beide Sprüche sicherlich häufig verwendet. Immerhin: Diese kurze Redewendung drückt Wichtiges aus. Sie bedeutet, dass jeder nach eigener höchstpersönlicher Art agiert. Wenn wir besagten Spruch nicht bereits hätten, müssten wir ihn wohl neu erfinden.
In meinen eigenen lexigraphischen Nachschlagewerken war allerdings nichts über diese Floskel – nicht einmal in Büchmanns "Geflügelte Worte" – zu finden. Vielleicht doch ein Zeichen, dass sie wirklich in die sprachliche Verbannung geschickt wurde? Erst durch eine Internetsuche stieß ich auf einen 2002 erschienenen Aufsatz des Rechtsphilosophen Hermann Klenner zum Thema. "Jedem das Seine" sei, so erfuhr ich, eine Verdeutschung des in der Antike sehr verbreiteten Spruchs "suum cuique“. (In dieser Form habe ich ihn nachher auch in "Büchmann“ gefunden). Cicero habe ihn verwendet, ebenfalls der ältere Cato im 3. vorchristlichen Jahrhundert. 1701 habe der preußische König Friedrich I ihn zum Motto des von ihm gestifteten Ordens des Schwarzen Adlers gemacht. Nach Hermann Klenner sei dieser Gedanke ein Grundpfeiler der westlichen Gesetzgebung und insbesondere des Bürgerlichen Gesetzbuches in Deutschland.
Muss man für alle Zeiten auf diesen Satz verzichten, fragte ich mich daraufhin, nur weil irgendein namenloser Idiot ihn einst äußerst zynisch missbraucht hat?
Es stellte sich übrigens heraus, so erfuhr ich weiter, dass MacDonalds, REWE, Nokia und Microsoft den knappen Spruch Ende der 90. Jahre in ihrer Werbung vergewendet haben – sicherlich nicht, um Nazigedankengut unters Volk zu bringen. Die jeweiligen Werbekampagnen wurden allerdings schleunigst wieder eingestampft, als die ersten Beschwerden hereinschneiten.
Doch zurück zu meiner Frage: Heißt es, dass dieser weise Spruch wegen der Dummheit einiger weniger in ewiger "Geiselhaft" verharren muss?
Ich weiß, dass ich mit diesem Blog auf verschiedene Empfindungen stoßen werde. Dennoch möchte ich meine Stimme für die Rehabilitierung des "Jedem das Seine" einsetzen. Bedenken Sie: Wenn Mörder, die aktiv ein Verbrechen begangen haben, begnadigt werden können, warum soll dann ein sinnvoller Satz, der sich gegen seinen Missbrauch nicht wehren konnte, nicht seine Bürgerrechte zurückerhalten?
Sie sehen aber, welches Schießpulver in Wörtern steckt.
Add new comment