Vor einem Monat zählte auch folgende Geschichte zu den Lachnummern, die in den Medien die Runde machten: Fünfzehn japanische Touristen stehen vor einem Fahrkartenschalter des großen Busbahnhofs in Jerusalem. Ihr Ziel ist Afula im Nordosten des Landes. Als sie nach windiger Busfahrt aussteigen, stehen sie vor einer heruntergekommenen Kleinstadt. Vor ihnen steht ein bewaffneter Mensch und blickt verwundert auf sie. Die Touristen bitten ihn freundlich um Auskunft über das nächste Hotel. "Hotel?“ antwortet der Mann verdutzt, "hier gibt es keine Hotels.“ Jetzt die Pointe: Die Reise führte nicht nach Afula im Nordosten Israels, sondern nach Ofra, einer Radikalen-Hochburg in den palästinensischen Gebieten. Die Reisenden sind über ein verbreitetes Sprachhindernis japanischer Muttersprachler gestolpert: die Verwechselung von "L“ und "R“.
Ob sich diese Geschichte wirklich ereignet hat oder ob es sich hier lediglich um eine Zeitungsente handelt, weiß ich nicht. Manche Internetquellen, die ich konsultiert habe, zweifeln am Wahrheitsgehalt dieser Anekdote. Ein Zweifler stellt die Frage: Warum würden 15 Japaner ausgerechnet Afula, eine nicht gerade ansehnliche Stadt, die hauptsächlich für ihre Artischoken bekannt ist, besuchen wollen?
Wie dem auch sei, Fakt ist: Japaner haben ihre Schwierigkeiten mit der Aussprache des "L“ und "R“. Aber nicht nur die Japaner. Die "L“/"R“-Verwechselung gibt es auch in europäischen Sprachen. Das lateinische "peregrinus“ ("Walfahrer“) wird im Italienischen zu "pellegrino“, im Englischen zu "pilgrim“. Lateinisch "parabola“ ("Wort“) wird auf Spanisch "palabra“. Das deutsche "Erle“ ruht auf einem althochdeutschen "elira“.
Die Sprachgeschichte ist voller Beispiele von Völkern, die nicht in der Lage waren/sind gewisse Laute zu artikulieren. Griechisches "th“ wie im Namen "Theodor“ ist für Russen unaussprechbar, wird in ein "F“ wie "Fjodor“ umgewandelt. Deutsches "H“ wie in "Hamburg“ oder "Hirsch“ wird im Russischen zu "G“ wie "Gamburg“ und "Girsch“. Neulich erzählte ich, wie Deutsche so gerne das englische "victory“ mit "uiktorie“ statt "wiktorie“ wiedergeben.
Fest steht: Die Unfähigkeit der Zunge, gewisse Laute zu sprechen, ist unter den Sprachgemeinschaften weit verbreitet. Aber: Dafür beruht sie fast immer auf einem System. Russisches "G“ wie in "gorod“, d.h. "Stadt“ (etymologisch mit "Garten“ verwandt) oder "golos“ ("Stimme“), entsprechen im Tschechischen einem "H“ wie in "hrad“. oder "hlas“. Oder denken Sie an das auslautende norddeutsche „T“, das in Süddeutschland stets zu "S“ wird: "Water“/“Wasser“, "dat“/“das“ – oder an das "G“ im Süddeutschen, das in gewissen norddeutschen Dialekten – etwa im Berlinerischen – zu einem "J“ wird. "Ik jeb ihm wat“ neben „"ch gebe ihm was“.
Es sind diese kleinen, systematischen Unterschiede, die mitunter dafür verantwortlich sind, dass Dialekte, ja, auch ganz neue Sprachen entstehen.
Wieso diese Änderungen stattfinden, weiß freilich kein Mensch genau zu erklären, obwohl es genügend Theorien darüber gibt. Zum Beispiel, dass ein Dialekt entsteht, wenn Menschen eine Fremdsprache übernehmen und sie mit Sprachregeln aus der eigenen untergegangenen Sprache versehen. Das ist bestimmt mal in Gallien und Hispanien passiert, als die dort eroberten Völker begannen, Latein zu parlieren und hablieren. Noch eine Theorie: Manche Menschen reden zwar dieselbe Sprache– etwa die Nord- und die Süddeutschen – , doch weil vereinzelte Gruppen lange isoliert voneinander lebten, haben ihre Sprachen sehr unterschiedliche Entwicklungen durchgemacht.
Dass Sprachen im Wandel begriffen sind, erfahren Sie von mir nicht zum ersten Mal. Interessant aber ist es aber, sich die letzten Konsequenzen dieser Wandlungen vor Auge zu halten: Farsi, Irisch, Deutsch, Italienisch, Albanisch, Russisch und Lituaisch – um nur ein paar Sprachen zu erwähnen – sind, wie jeder weiß, miteinander verwandt. Es sind alles sogenannte "indogermanische“ Sprachen. Doch weil sie als „Dialekte“ einer Ursprache so lange getrennt voneinander weiter wuchsen, erkennen wir sie oft kaum mehr als Verwandte.
Somit komme ich jetzt zum eigentlichen Thema. Es gibt Sprachwissenschaftler, unter anderen den Amerikaner Joseph Greenberg (1915-2001), die vermuten, dass es vor abertausenden Jahren überhaupt nur sehr wenige Sprachen auf der Erde gegeben haben. Manche dieser Forscher gehen sogar von einer einzigen Ursprache aus, die man "Nostratisch“ nennt. Wir reden nun von der Zeit vor der berühmten "babylonischen Sprachverwirrung“.
Eigentlich hatte ich heute über ganz normale Versprecher schreiben wollen, liebe "Nostratisch“ Sprecher/innen. Sie sehen, wie schnell der Mensch abgelenkt wird. Kein Wunder, dass Sprachen ständig im Wandel begriffen sind.
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