Meine Nachbarin Sarah ist erst drei Jahre alt und beherrscht ihre Muttersprache Deutsch mittlerweile recht gut. Auch wenn sie gelegentlich – wie jedes Kleinkind – Fehler macht, wird man sie stets als Deutsche erkennen. Ich hingegen spreche Deutsch seit über 30 Jahren und bleibe immer noch ausländischer Sprecher, gerade weil ich gelegentlich fehlerhaft spreche und natürlich, weil man den "fremden“ Tonfall vernimmt. So ist das Leben.
Die Fehler, die "Frischlinge“ in der deutschen Sprache machen, sind allerdings nur selten willkürlicher Art. Es steckt stets eine Logik dahinter. Oft sagen Kleinkinder, zum Beispiel, "gebringt“ und "gedenkt“ statt "gebracht“ und "gedacht“, weil sie fieberhaft nach verbindlichen Regeln suchen. Auch mit dem "Derdiedas“ nehmen sie es nicht immer so ganz genau. (Auch ich leide zeitweilig unter diesem Problem!). Doch ganz ehrlich: Das mit den Artikeln ist im Deutschen wirklich grauenvoll. Sarah wird jedenfalls diese Schwierigkeiten viel eher bewältigen, als ich es jemals noch erhoffen kann.
Doch ich komme heute auf Sarah zu schreiben, nicht um ihre Grammatik zu analysieren. Vielmehr, weil mir Sarah vor Augen geführt hat, wie sehr sich der Mensch nach Kommunikation mit anderen Menschen sehnt.
Vor etwa einer Woche war ich zufällig auf dem Balkon, während meine kleine Nachbarin ein "Gespräch“ mit einem anderen Kleinkind führte. Sarah wohnt im Erdgeschoss, das andere Kind, etwa gleich alt, war auf einem Balkon im zweiten Stock, offenbar besuchte es die Oma. Ich kann mich nicht erinnern, was das Thema des verbalen Austausches unter Jungsprecherinnen war. Sie drückten sich jedenfalls in kurzen Sätzen aus – etwa: "Du bist ein Pipikopf“ oder ähnlich. Diesen einen Satz wiederholten sie abermals und lachten jedesmal ganz herzhaft dabei. Nach und nach wurden die Wiederholungen allerdings zu Routine und das Lachen klang immer zwanghafter. Aber nur so lernt der Mensch, die Grenzen der vernünftigen Kommunikation zu erkennen.
Wie dem auch sei. Das andere Kind hieß wohl "Lola“. Ich vermute das, weil die kleine Sarah gleich am nächsten Tag in den Garten hinter der elterlichen Wohnung lief und lauthals "Hallo Lola!“ schrie, natürlich in der Hoffnung, Lola würde wieder wie am vorigen Tag auf dem Balkon erscheinen, um das lustige Spiel (namens Kommunikation) fortzusetzen. Fehlanzeige. Lola kam nicht. "Hallo Lola!“ rief Sarah erneut und ebenso hoffnungsvoll wie das erste Mal, wartete einige Augenblicke und rief wieder, "Hallo Lola!“ Es war aber vergebliche Liebesmühe. Denn Lola erschien nicht. Doch Sarah gab nicht so leicht auf und rief weiter und weiter – als könnte sie Lola dadurch hervorzaubern. "Hallo Lola!“. Aber keine Lola weit und breit. Bald wurde aus "Hallo Lola“ „Haaalloooo Looooolaaaaa!“ oder "Haaaaaaaaa-loo…Looooooo-la!“ oder stakkato "Ha-llo-lo-la-ha-llo-lo-la-ha-llo-lo-la“ usw. Doch Lola kam nicht mehr zum Vorschein. Dieser Ritus wiederholte sich mindestens dreimal täglich und ebenso an den folgenden Tagen – stets ohne Erfolg. Was mir auffiel: "Lola“ war längst nicht mehr ein Kind namens Lola, sonderen zu einer Erinnerung eines goldenen Zeitalters geworden, das Sarah durch eben die zwei Wörter "hallo“ und "Lola“ ins Leben herbeizubeschwören versuchte. Man kann ahnen, welche Emotionen in diesem Ruf steckten: Erwartung, Erregung, Ungeduld, Enttäuschung, Zorn, Langeweile usw. Der Ruf "Hallo Lola“ wurde aber zugleich zu einer Gelegentheit, die Vielfalt der menschlichen Ausdrücksweise zu üben – das erwähne ich nur nebenbei. Doch Lola kehrte nicht mehr zurück.
Ich erzähle hier, so glaube ich, ein sehr wichtiges Ereignis aus einem jungen Leben. Sarah hat mit "Lola“ etwas durchgemacht, das jeder von uns auf der holprigen Straße der Kommunikation einst durchgemacht hat. Das heißt: Was als richtige Begegnung begann, hat sich ins Symbolhafte gewandelt. "Lola“ ist zu einer Idee geworden, und die Sprache ist zu dem Mittel, diese Idee zu artikulieren.
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