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Besserwissers "Scheiße"

Liebe Leser, liebe Leserinnen, Ihr Sprachraum – und damit meine ich Deutschland, Österreich, die Schweiz und zum Teil Luxemburg – ist für Sie letztendlich eine Insel der Seligen. Ihre Insel! Hier genießen Sie die sprachliche Narrenfreiheit. Wer will, darf sich sogar als Lokalpatrioten gebärden und zimtzickenartig auf anders tönende Sprecher der eigenen Sprache herabsehen. Letztendlich ist es aber egal, wie man sich verhält. Man ist unter sich. Kein Wunder, dass es selten ins Bewusstsein fällt, dass alle Sie verstehen und Sie wiederum alle.

Doch kaum befinden Sie sich irgendwo, wo Ihre Sprache kaum oder überhaupt nicht geläufig ist, wird es Ihnen ganz anders: Man wird zu einer winzigen Minderheit. Auf einmal bekennen sich der Münchner, der Hamburger, der Leipziger und der Stuttgarter zu ihren Gemeinsamkeiten.

Warum erzähle ich Ihnen diese Gemeinplätze? Ausschlaggebend ist ein schmales Buch, das ich in der Barnes & Noble Buchhandlung in Surprise, Arizona entdeckt habe mit dem Titel: "Scheiße: The real German you were never taught in school“ (“Das echte Deutsch, das Sie nie in der Schule lernten”). Autorin ist eine gewisse Gertrude Besserwisser.

Natürlich denkt man sogleich an einen Decknamen, aber das ist nicht wichtig. Im Google findet man 2580 Treffer unter Stichwort "Gertrude Besserwisser“. Die meisten davon beziehen sich auf das Buch. Gelegentlich trifft man auf G.B. an einer englischsprachigen Webseite, die Liebhabern des deutschen Schäferhunds gewidmet ist. Hier erzählt "Gertrude“, wie man sie nennt, mitunter von ihrem Kontakt zu Hundezüchtern in Germany.

Das aber nur nebenbei. Mein erster Gedanke war, als ich in diesem schmalen Buch zum ersten Mal durchblätterte, dass es für manche Menschen, die noch nie den deutschen Sprachraum betreten haben, ihr alleiniger Kontakt zu der deutschen Umgangsspache (bzw. vulgären Sprache) ist. Die 126 Seiten des Buches werden nach Themen organisiert. Das erste Kapitel befasst sich zum Beispiel mit den "Basics“. Das sind Wörter wie "Mann“, "Kerl“, "Macker“, "Typ“, "Heini“, "Weib“, "Tussi“, "Braut“ (wird übersetzt mit "chick“, wörtlich "Kücken“, entspricht dem heutigen "Mädel“). Ein Kapitel handelt von Geldsachen ("Knute“, "Moneten“, "Zaster“ usw.), eins von Autos ("Amischlitten“, "Flitzen“, "Schese“ – letzteres ist mir übrigens nicht geläufig, "Nuckelpinne“???), eins von Ausdrücken des Lobs ("prima“, "spitze“, "elefantös“ usw.)

Und natürlich findet man das Wichtigste über Sex, Alkohol, Fäkalien, Essen. Kurz gesagt: Alles, was das Herz begehrt, kommt in diesem Büchlein vor. Manchmal, weil das Buch schön pädagogisch aufgebaut ist, sind die Vokabel mit Beispielsätzen versehen. Etwa: "Heute habe ich in unserem Käseblatt gelesen, dass drei Anhalter Heiner Behrens überfallen haben und mit seiner alten Schese abgehauen sind.“ Oder "Himmel, Arsch und Zwirn! Das Gesöff ist völlig beschissen“. Am Schluss kann man sich auch prüfen lassen. D.h.: vom Englischen ins Deutsche oder umgekehrt übersetzen. Hier eine Testfrage. Man soll folgenden Satz auf Englisch sagen: "Oh Gott, ich halt’s nicht mehr aus. Ich kriege schon ein Rohr, wenn ich das Mädchen nur ansehe. Sie ist die süßeste kleine Maus, die ich je gesehen habe.“ Knorke, nicht wahr?

Es hat mir Spaß gemacht, im Besserwisser’schen Büchlein (erschienen 1994) zu schmöckern, aber es hat mich zugleich etwas traurig gestimmt. Denn "Scheiße“ ist letztendlich nur ein Schnappschuss aus einer vergangenen Zeit. Mehr kann es nie werden, wenn man die lebende Sprache im Ohr hat.

Mit dieser Idee im Kopf kehre ich jetzt zu den Gemeinplätzen am Anfang dieser Glosse zurück. Ich habe mir eine(n) Muttersprachler(in) vorgestellt. Er oder sie steht in Barnes & Nobles in Surprise und blättert durch "Scheiße“. Langsam schnürte ihm/ihr das Heimweh den Hals. Denn er oder sie spürt: Hier finde ich nur einen tiefgefrorenen Slang, Konservensprache. Ich bin weit weg von Daheim.

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