Gestern telefonierte ich mit meiner Mutter in den USA. Sie erzählte mir, dass ihre Freundin Betty gestorben sei. "She passed away“, sagte sie.
"To pass away“, etwa "dahingehen“, ist in den USA sehr geläufig, ebenso wie "He’s been gone for years“ ("Er ist seit Jahren weg“), wenn man das Wort "dead“ oder "die“ vermeiden will. Letztendlich aber eine vergebliche Liebesmühe, den Tod durch sanfte Vokabeln beschönigen zu wollen. Fakt ist: Betty kommt nie wieder zurück. She kicked the bucket ("den Eimer treten“), bit the dust ("in den Staub beißen“), croaked ("quaken“). Sie schaut sich die Gänseblümchen nur mehr von unten an.
Leider weiß ich nicht genau zu berichten, seit wann "pass away“ im Gebrauch ist. Ich vermute, dass dieser Ausdruck – wie seine Pendants im Deutschen "entschlafen“, "hinscheiden“, "entschlummern“ – Erzeugnisse des neuen Bürgertums ab dem 17. Jahrhundert sind, als die "gute Stube“, Grundlage der heutigen Westlichen Zivilisation, zunehmend an Einfluss gewonnen hatte. Der Bürger war ein moderner Mensch, der sich von der Derbheit seiner bäuerlichen Wurzeln befreien und bereinigen wollte. Er baute Höflichkeitsfloskel in seine Sprache ein, um gebildeter, vornehmer zu wirken als seine Vorfahren. Übrigens: Im früheren Deutsch bedeutete "entschlafen“ schlicht und einfach "einschlafen“. Es waren sicherlich die Bürger, die dieses alte Wort zu einem neuen, verniedlichenden Leben erweckten.
In der heutigen Zeit ist das Sterben – zumindest in unserem Breitengrad – recht unsichtbar geworden. Echten Toten begegnet man nur selten. Meistens stirbt man in Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Wer doch im eigenen Bett das Zeitliche segnet, wird vom Bestattungsdienst in einem grauen Sack diskret hinauskomplimentiert. Nur der Unfalltod oder das sehr seltene Totumfallen auf der Straße zählen noch zu öffentlichen Todesspektakeln. Das steht freilich im krassen Gegensatz zu früheren Zeiten als das Sterben ein sehr öffentliches Gesicht hatte. Nicht von ungefähr ist das Wort "sterben“ mit "starr“ verwandt. "Sterben“ ist buchstäblich ein "starr werden“. Das weiß jeder, der eine Leiche gesehen hat.
Doch nicht nur der Tod ist in unserer Gesellschaft hinter dem Schleier der Schönrederei verschwunden. Alles, was unmittelbar mit der Körperlichkeit zu tun hat, erweckt in einer bürgerlichen Gesellschaft ein Schamverhalten. Deutliche Vokabeln wie "scheißen“ und "pissen“, die früher allgemein gebräuchlich waren, geraten zunehmend in den sprachlichen Giftschrank. "Toilette“, das stille Örtchen, wo man seine "Geschäfte“ erledigt, bedeutete ursprünglich "Tüchlein“. Im 18. Jahrhundert, war es das "Tüchlein“, das man gebrauchte, um sich Schminke an- und abzulegen. Bald nannte man den Ort, wo man sich schminkte, "Toilette“. Schließlich wurde dieses Wort gebraucht, um sanft auf das WC ("water closet“ - daher "Klo") hinzuweisen. Alles ohnehin Euphemismen für "Scheißhaus“, "shithouse“ oder Französisch "chiottes“ usw. Im prüden Amerika kann man nicht einmal "toilet“ sagen. Man geht, wenn man muss, "Hände waschen“ ("to wash my hands“) oder "to the little boy’s bzw. little girl’s room“ ("den Raum für kleine Jungs bzw. Mädchen“) oder "to the powder room“ ("zum Nasenpudern“) oder "to the rest room“ (wörtlich "Ruheraum“).
Nach meiner Ankunft in München 1975 staunte ich, als ich auf einer öffentlichen Toilette das Wort "Pissort“ entdeckte. Die erfrischende Ehrlichkeit dieser Bezeichnung hat mich damals mächtig beeindrückt. Dreißig Jahre später ist diese Überschrift allerdings längst einer anderen, harmloseren Ausdrucksart gewichen.
Über das "Rülpsen“ und das "Furzen“ gibt es auch einiges zu sagen – ebenfalls über die Nacktheit und den Geschlechtsverkehr. Vielleicht ein anderes Mal. Doch jetzt eine letzte Anekdote über den Tod. Als der idealistische amerikanische Staatsmann Adlai Stevenson 1965 auf offener Straße in London einem Herzinfarkt erlag, lautete die Seite-eins-Schlagzeile in der New Yorker Boulevardzeitung "Daily News“ – einer Erzfeindin Stevensons: "Stevenson drops dead“. "Drop dead“ hat im Englischen eine doppelte Bedeutung. Als Befehl ist es mit "Verrecke“, gleich zu setzen. Es kann aber auch wörtlich mit "tot umfallen“ übersetzt werden. Die "Daily News“ hatte sich einen letzten Angriff auf den ihr verhassten Staatsmann erlaubt. Immerhin war Stevensons Tod kein langweiliges "passing away“.
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