Die letzten Tage habe ich mir oft über das Wort "Dystopie“ Gedanken gemacht und es in Gesprächen immer wieder verwendet. Doch viele Menschen kennen es offenbar nicht.
Das machte mich stutzig. Habe ich dieses Wort im Alleingang verdeutscht? sinnierte ich. Denn "dystopia“ (sprich "diss-TO-pi-a“) ist im Englischen“ ein sehr brauchbares "fifty dollar word“, wie wir sagen, das heißt, ein Wort der gehobenen Klasse.
Ich suchte in meinem "Duden-Universal-Wörterbuch“ (Ausgabe 1983). Und siehe: Es war nicht da. Also doch kein deutsches Wort? Dann googelte ich das Stichwort, prompt hatte ich 128.000 Treffer. Also doch deutsch, wenn auch vielleicht ein "Fünfzigeurowort“. Schließlich habe ich in meinem elektronischen "Duden-Univeral-Wörterbuch“ (Ausgabe 2006) nachgeschlagen und fand es ebenfalls. "Dystopie“, willkommen in der deutschen Sprache!
"Dystopie“ ist das Gegenteil von „Utopie“ – Letzteres eine Schöpfung des englischen Humanisten und Staatsmanns Thomas More. 1535 ließ König Henry VIII seinen Lordkanzler More enthaupten, weil dieser sich weigerte, die Ehescheidung des egozentrischen Königs von Katerina von Aragon gutzuheißen. Nach Henrys damaligen Auffassung: Hochverrat.
Der prinzipientreue More hatte 1516 ein Buch über eine paradiesische Insel geschrieben, wo keiner länger als sechs Stunden täglich zu arbeiten hatte (am Anfang des 16. Jahrhundert wirklich ein paradiesischer Zustand). Es gab hier kein Privateigentum, die Glaubensfreiheit florierte. Jeder bekam, was er brauchte, u.a., alle zehn Jahre ein neues Haus. Nur durfte man nichts Kritisches über den Staat äußern, ein Verbrechen, dass auf der Insel mit dem Tod geahndet wurde. Mores "Utopia“, wie er diesen Ort nannte, war letztlich eine Art Schlaraffenland ohne die schöne Völlerei.
Das Wort "Utopia“ bildete er von zwei griechischen Vokabeln: "u“ ("nicht“) und "topos“ ("Ort“). „Utopie war also ein "Nirgendsland“, ein "Unort“ (im positiven Sinn).
Übrigens: Nachdem Odysseus den bösen Zyklopen Polyphem geblendet hat, sagt der schlaue Grieche dem Zyklopen, er heiße "Utis“, was auf Griechisch "Niemand“ ("Unjemand“) bedeutet, wohl ein Wortspiel auf den Namen„Odyss-eus“. Als die anderen Zyklopen Polyphem fragen, wer ihm so übel zugerichtet habe, antwortet er "Utis“. Die anderen lachen, weil es sich anhört, als hätte "Niemand“ ihn geblendet.
Aber zurück zur "Dystopie“ ("dys-“ auf Griechisch ist wie deutsches „miss-“). Dieser "Unort“ ist die wahre Heimat der "Unmenschen“. Es ist ein sehr treffendes Wort, um Hitlers Deutschland, Stalins Sowjetunion und Pol Pots Kambodia zu beschreiben. In der Literatur malte George Orwell in seinem Buch "1984“ eine perfekte „Dystopie“.
Wieso will ich plötzlich über "Dystopie“ berichten? Tatsache ist, ich gehe mit diesem Wort seit Monaten schwanger, weil ich immer häufiger beobachte, wie man durch Schlechtreden, jegliche Gesellschaft in eine Dystropie verwandeln kann – ja, auch die unsere. Leicht zu vergessen, aber Worte sind ein mächtiges Mittel. Wenn, zum Beispiel, Wirtschaftsguru Alan Greenspan positiv über die Wirtschaft redet, dann steigen die Aktien, wenn er ein Wort des Zweifels ausspricht, dann sinken die Werte. Gleiches findet man in der Firmenpolitik, in der Familie, schlichtweg in jeder gesellschaftlichen Situation. Die Wortwahl, die einfache Wortwahl, ist oft entscheidend für die Entstehung von Dystopien – und Utopien. Soviel Macht hat die Sprache. Ende der Predigt.
Comments
Interessant!
So vergesslich ist der Mensch
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