Stammleser Mike Seeger hat in meiner vorigen Glosse eine Wortschöpfung entdeckt: "unsehnlich“. Er mutmaßte meinerseits einen Fehler – dass ich "unsehnlich“ anstatt "unansehnlich“ geschrieben habe. Ich könnte jetzt was vormogeln und behaupten, dass ich "unsehnlich“ mit Absicht geschrieben habe, weil ich dem deutschen Wortschatz Neues schenken wollte. Das stimmt natürlich nicht. Es war eine reine Fehlleistung, erklärbar immerhin, wenn man bedenkt, dass dieses Wort UNanSEHNlich lautet. Das hastige Ohr kann das leise "an“ leicht überhören. So entstehen neue Wörter am laufenden Band. Tatsache ist: Der Sprachwandel ist immer auf eine solche Schlampigkeit angewiesen. Aus dem lateinischen "parabolare“ (ursprünglich Kirchenlateinisch für "Parabel erzählen“), zum Beispiel, entsteht durch ähnliche Zungenfaulheit das italienische "parlare“ oder das französische "parler“ im Sinn von "sprechen“.
Mich freut es jedenfalls, dass Mike Seeger nur diesen einen Fehler entdeckt hat. Ich bilde mir ein, dass meine Texte von Unregelmäßigkeiten nur wimmeln. Besonders tückisch für mich – obwohl ich das Deutsche seit über 30 Jahren als Sprachmittel benutze – sind die Artikel, also "der“, "die“, "das“. Wer diese Grausamkeit der deutschen Sprache nicht im ungeformten Hirn des Kleinkinds bereits aufgenommen hat, der muss ein Leben lang unter dem Lottospiel der Artikel leiden.
Ich habe das Schreiben stets mit dem Seiltanzen verglichen. Ein Schriftsteller ist irgendwie wie ein(e) Seiltänzer(in), der/die sich aus welchem Grund auch immer entschließt,vor einem Publikum herumzuspringen. Ein jeder Fehltritt fällt auf – macht die Sache vielleicht sogar spannender sowohl für den Zuschauer wie auch für den Auftretenden.
In meinem Fall fällt eine zusätzliche Erschwernis ins Gewicht: Das Werkzeug meiner Kunst ist die Sprache. Und ich habe mir ausgerechnet eine Fremdsprache ausgesucht, um mich auszudrücken. Gelegentlich vergleiche ich mich deshalb mit einem blinden Maler: Die Bilder entstehen, aber die Sinnesgebung ist eine unkonvenionelle. Übrigrens: Dieses Thema habe ich in meinem bisher unveröffentlichten Buch, "Gedanken um Otto W.“ instrumentalisiert. Wenn das Manuskript endlich seinen Verlag gefunden hat, werden Sie mehr über diesen für mich sehr wichtigen Sachverhalt erfahren können.
Aber zurück zu meiner "Unsehnlichkeit“. Mike Seeger hat in Google 28 Hinweise auf das Wort "unsehnlich“ gefunden – alle von anderen Banausen geschrieben. Selbstverständlich habe ich es ihm aus Neugierde sogleich nachgemacht. Ich habe sogar 29 Treffer entdeckt. Das Interessante: Die Urheber der anderen "Unsehnliche“ waren keine "blinden Maler“ wie ich, sondern offensichtlich waschechte Deutsche, deren Ohren genauso hastig gehört hatten wie meine. Das hat mir allerdings Mut gemacht. Denn es untermauert meine Theorie des Sprachwandels als Auswuchs der Schludrigkeit.
Ich denke: Nachdem diese Glosse erscheint, wird das Stichwort "unsehnlich“ bei Google um einige Treffer reicher werden. Das ist jedenfalls mein sehnlicher Wunsch.
Add new comment