Das Wort "Hexe“ hat mich heute aus zwei Gründen in Beschlag genommen: Zuerst, weil ich mir vorgestern einen "Hexenschuss“ zugezogen habe. Fast schäme ich mich zu erzählen, wie es passiert ist. Ich hatte mich über das Spülbecken gebückt, während ich die Zähne putzte, meine Frau fragte etwas, und in dem Augenblick habe ich kurz gehustet. Sogleich spürte ich eine Verkrampfung am Kreuz. Bald konnte ich kaum noch ohne Schmerzen stehen oder sitzen. Es geht mir mittlerweile etwas besser, dankeschön.
Der zweite Grund für mein momentanes Interesse an diesem Wort hat mit einem Artikel zu tun, den ich vor wenigen Tagen in der "International Herald Tribune“ gelesen habe. Es ging um eine grausame Hexenjagd in Angola: Erzählt wurde die Geschichte vom zwölfjährigen Domingos Pedro. Nachdem sein Vater ganz plötzlich und ohne ersichtliche Gründe gestorben war, wurde Domingos von aufgebrachten Verwandten als Hexe überführt. Man schlug auf den Jungen ein und zerrte ihn in Richtung eines nahegelegenen Flusses, wo man vorhatte, ihn zu ertränken. Was auch passiert wäre, wenn der Dorfälteste nicht rechtzeitig interveniert hätte. Dieses Schicksal erleiden hunderte Jugendliche in Angola heutzutage, so erfuhr ich im Artikel.
"Hexenschuss“ ist ein bildhafter Ausdruck für einen Schmerz, der in der medizinischen Fachsprache "Lumbago“ ("Lendenschmerz“ auf Lateinisch) heißt. Heute klingt diese Redewendung ziemlich harmlos (solange man selbst nicht gerade darunter leidet). Das war aber nicht immer so. Dieses Wort hat nämlich einen ernsten Hintergrund. Denn auch Deutsche (besser gesagt heutige EU-Mitglieder schlechthin) glaubten einst an Hexen, wie man weiß. Im dunklen Mief der ländlichen Isolierung schob man seine Rückenschmerzen vorschnell – und gerne – einer unbeliebten Nachbarin in die Schuhe. Man bildete sich ein, dass sie ihr Opfer aus der Ferne mit Hexenpfeilen beschossen und getroffen habe. Was mit der armen Hexe dann geschah, können wir uns anhand des Schicksals Domingos Pedro gut ausmalen.
Der "Hexenschuss“ ist von daher sicherlich ein uralter deutscher Begriff und ähnelt einer zweiten Redewendung: "Der Bilwis hat ihn geschossen“. Bilwis? Das war der Name eines einst aus Urzeiten in den deutschen Ländern bekannten Kobolds. Schon die Angelsachsen kannten ihn – und sie sind bereits im sechsten Jahrhundert oder noch früher mit ihrer germanischen Sprache nach England ausgewandert. Im Altenglischen heißt dieser Dämon "Bilewit“. (Nebenbei: Dieses Wort bedeutet eigentlich "gütig“ oder “wohlwollend“. Keine Seltenheit, dass man das Böse durch einen positiven Kosenamen zu beschwichtigen versucht. Die Griechen nannten die rachesüchtige "Furien“ beispielsweise "Eumenides“, d.h., die "Wohlgesonnenen“). "Der Bilwis hat ihn geschossen“ wird bis heute – so Lutz Röhrich („Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten“) – in Sachsen, Thüringen und Bayern als Idiom gebraucht. Ich habe es in Bayern allerdings noch nie gehört – was aber nichts zu bedeuten hat.
Was "Hexe“ betrifft: Dieses altertümliche Wort lässt sich, so Kluge ("Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“), von der althochdeutschen zusammengesetzten Vokabel "hagzussa“ ableiten. "Hag“ kann man zweierlei deuten: Entweder als Grenzgebiet eines Gehöfts (denken Sie an "Gehege“) oder als uralte Bezeichnung für die männlichen Genitalien (irgendwie mit "Hoden“ verwandt). "Zussa“ war einst ein gängiger Befriff für "Geist“, "Gespenst“ oder "Elfe“. Die "Hexe“ ist also ursprünglich ein Geist – männlich oder weiblich – , der sich am "Gehöftgehege“ aufhält – das heißt: ein Geist, der den Frieden des "umfriedeten“ Dorfs gefährdet. Oder sie war vielleicht vor sehr langer Zeit eine Fruchtbarkeitsgottheit – das heißt, sie war auf dem nicht gerade einfachen Gebiet der Sexualität tätig. Beide Deutungen würden ausgezeichnete Voraussetzungen für ein bedrohliches Unwesen liefern.
Hat schon damals die "hagzussa“ auf unschuldige Menschen "geschossen“, um sie mit Schmerzen zu lähmen? Das weiß freilich niemand. Man kann sich dennoch leicht ausmalen, wieviele unschuldige Menschen wegen des Leidens anderer selbst zuleide gekommen sind, weil man sie für "Hexen“ gehalten hatte. Man kann sich ebenfalls vorstellen, wieviele Menschen, die anderen großes Leid tatsächlich zugefügt haben, ganz ungeschoren davonkommen. Aber so ist das Leben.
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