You are here

Autobiographische Fragmente

Unless there’s magic
the end will be tragic
Body and Soul

I

Ich bin Wächter. Wir sind viele. Wie der Name schon sagt, wachen wir. Wir wachen, ihr aber seht uns nicht. Wir wachen über alles Mögliche, auch über Dinge, von denen ihr keine Ahnung habt, dass es sie gibt. Nichts geschieht, dass uns entgeht. Nichts könnt ihr machen, was wir nicht schon lange wissen.

Man ahnt vielleicht, wie langweilig das Wachen werden könnte. Das stimmt auch, zumindest theoretisch. Denn alles auf eurer Frequenz ist für uns voraussehbar, mathematisch errechenbar, so dass es uns bisweilen schwerfallen könnte, wachsam zu bleiben, zumindest theoretisch. Nur die Vielfalt der errechenbaren Vorgänge schafft die Illusion der Komplexität, allenfalls von eurer Warte aus. Uns entgeht nichts. Eure kleinsten Tücken sind uns bekannt: Der eine hegt Mordfantasien, die er nie ausleben wird; der andere muss viermal blinzeln, bevor er sich zu etwas bekennt; einer putzt die Zähne täglich nach gleichem Ritus, aus Angst, es passiert etwas Unaussprechbares. Und das mit den Gelüsten: Alles für uns alter Hut, ja, ALLES kennen wir. Alles dröge, wenn man die mathematische Grundlage beherrscht. Notfalls steigen wir auf die nächste Potenz, oder auf die übernächste, wenn die Sachmenge es erfordert. Wir kommen immer mit, verfolgen mühelos den Lauf der Dinge.

Ihr bekommt nichts davon mit, oder nur gelegentlich etwas, zu selten aber, um eure Situation zu erfassen, wie wir sie können. Dass es so ist, liegt nicht ganz bei euch. Es ist das Gesetz eurer Frequenz.

Wir langweilen uns NIE, insbesondere nicht, wenn wir Dienst haben, und Dienst haben wir immer. Im Gegenteil. Wir sind zutiefst bewegt, um ein Wort zu benutzen, dass euch vielleicht erahnen lässt, wie wir die Dinge aus unserer Sicht erleben: Das, worüber wir wachen, setzt uns stets in Bewegung.

Das Mitleid bindet uns an euch, kein eingebildetes Mitfühlen, das zu Anflügen der Überheblichkeit führt, wie bei euch. Unser Mitleid kennt keine Überheblichkeit. Unser Mitleid fesselt uns an eure Frequenz. Wir können nicht weg, so schmerzhaft auch die eigene Existenz ist. Denn es ist, als würden wir am Meeresboden kriechen, da, wo der atmosphärische Druck hundert Mal stärker ist als auf der Meeresoberfläche. So leben wir seit ewig bei euch, so lange, dass ihr, wenn ich euch die Zeitspanne in Zahlen übersetzen würde, aus Unkenntnis nur lachen würdet.

Wir sind des Mitleids Gefangene. Klingt komisch? Dann habt ihr noch nichts begriffen. Ihr habt unsere Sprache mit der eigenen verwechselt.

Wir sind schon so lange von Zuhause weg, dass wir uns kaum noch erinnern, wie es dort mal war. Eure Frequenz hat uns vieles über die eigene Herkunft vergessen lassen. Manchmal fällt es uns schwer, die Ursache unseres Abstiegs ins Bewusstsein zu rufen. Besser gesagt, es fällt uns immer schwerer.

Vielleicht fragt ihr, wie diese Botschaft euch erreicht. Nein, kein Kunststück. Es ist wie ein Diktat in Flüsterton. Nur so ist der Kontakt zwischen euch und uns möglich. Sonst haben wir keine Sprache mit euch gemeinsam, und wir kämen nie ins Gespräch.

Merkt euch: Ich bin. Ich bin eine eigenständige Existenz, die sich euch nur mittels einer Existenz auf eurer Frequenz offenbaren kann.

Meine Bezugsperson ist aber unfähig, meine Existenz als gesichert zu konstatieren, denkt, dass meine Mitteilungen die Frucht eigener Gedanken, eigener Erlebnisse sind. Zuweilen glaubt sie auch, dass ihr eine „göttliche Eingebung“ zuteil geworden ist. Aber so muss es sein, obwohl es zu erheblicher Konfusion führt.

Denn manche Empfänger deuten unsere Mitteilungen so, als wären es die Toten, die um sie herumgeistern und ihnen Dinge zuflüstern. Das ist falsch. Wir sind keine Gespenster, die man beschwört. Die Toten könnt ihr nicht beschwören. Ha. Als fänden sie durch einen von euch eine Stimme! Dass ich nicht lache: So denken nur Träumer.

Mit alldem habe ich nichts zu tun.

Ich sage es nur einmal: Allein die Wächter können und dürfen durch euch sprechen – wenn man das, was wir tun, „sprechen“ nennen darf. Sonst tritt niemand aus dem Seelenreich mit euch in Verbindung. Es hat auch keiner Lust dazu.

Sagt ehrlich: Würdet ihr gerne am Meeresboden herumkriechen, um sich mit den Kraken zu unterhalten?

Wir auch nicht.

Wir Wächter halten zu euch Kontakt, weil wir es müssen. Es ist unsere Strafe.

II

Er ist eingeschlafen. Jetzt bin ich am Zug, dies nicht zum ersten Mal. Ich fürchte, es wird auch nicht das letzte Mal sein. Er leidet. Manchmal hockt er reglos da auf einem Stuhl oder streckt sich auf dem Bett aus und stiert auf die eigenen Hände und fragt sich: Warum? Ich empfinde stets großes Mitleid mit ihm und versuche ihn zu trösten. Er aber achtet nicht auf mich. Er forscht nach Einsicht, findet sie nicht, sucht nach einem Sinn, hält alles für sinnlos.

Letzte Woche kokettierte er zum ersten Mal mit dem Selbstmord. Ich war mir sicher, dass er es nicht durchzieht. Dennoch: Die Vorstellung, dass ihn sein Frust soweit gebracht hatte, fand ich bedenklich. Er rasierte sich in der Badewanne und studierte das eigene Gesicht im Handspiegel. Ich kannte diesen sauren Blick der Selbstverachtung schon. Er betrachtete sich eine Weile, lauschte Musik vom Plattenspieler: Beniamino Gigli sang Nessun dorma, und die Musik versetzte ihn in einen Rausch. Dann nahm er den Rasierapparat auseinander, klemmte die Rasierklinge in seine Finger; neugierig studierte er sie, die Angst war deutlich von seinem Gesicht abzulesen. Er tauchte seine Hände im Wasser. Ich wollte intervenieren, doch in solchen Situationen bin ich machtlos. Ich darf mich nicht einmischen. Eine Zeit lang kokettierte er nur, drückte die stumpfe Seite der Rasierklinge gegen sein Handgelenk…zur Probe. Mir war klar, er wollte sich aufschaukeln, sich herausfordern. Dann tastete er vorsichtig, aber entschieden, mit der scharfen Klingenkante an seiner Haut entlang. Er hielt den Atem an und machte dann doch einen kleinen Schnitt. Gleich zuckte er kurz zusammen. Ein dünner, roter Faden strömte faserig ins Wasser, bis er sich im klaren Wasser auflöste. Er lächelte kurz, war mit dem kleinen Erfolg offensichtlich zufrieden, zugleich aber entsetzt. Nüchtern setzte er die Klinge wieder in den Rasierapparat ein und drehte sorgfältig an der Schließschraube. Alles war still. Auch Gigli schwieg. Er hielt nun kurz inne, und dann hob er seine Hände aus dem Wasser, ballte sie zu Fäusten und schlug wild auf die Wasseroberfläche.

Ich richtete meine Gedanken und Gefühle so intensiv wie möglich auf ihn, in der Hoffnung, ich könnte ihn so erreichen. Bisher habe ich damit nur Erfolg gehabt, wenn er gut aufgelegt war oder wenn er schlief.

Ich glaube noch immer, dass er zu einem Selbstmord nicht fähig wäre. Trotzdem kann man so etwas nie ganz ausschließen. Die passende Gelegenheit kann einen Menschen jederzeit zu einer Kurzschlusshandlung treiben. Wäre aber so etwas passiert und er mir zum ersten Mal in die Augen hätte anblicken, mich ansehen können, wie ich wirklich bin, so weiß ich, dass seine erste Mitteilung in unserer Sprache das uns leider allzu vertraute stumme Geschrei, das wir Horror der Erkenntnis nennen, gewesen wäre, eine Begleiterscheinung des ersten Augenblicks der Klarheit, den der Neuling auf unserer Frequenz erlebt, wenn er eure Welt durch Gewalt gegen sich selbst verlassen hat. Diesem Augenblick beizuwohnen, ist immer grausam. Und jedesmal werde ich vom tiefsten Mitleid ergriffen. Ich habe mich nie daran gewöhnt und werde es wahrscheinlich nie: diesen Anblick einer Seele, die in ihrer Ganzheit vom Horror der Erkenntnis erschüttert wird. Keine Mitleidszuwendung, die ohnehin spontan aus uns herausströmt, direkt in die dort entstehende Leere des Horrors der Erkenntnis, vermag den Neuling zu besänftigen. Lang, unvorstellbar lang bleibt er eine offene Wunde.

Wir kennen keine hoffnungslosen Situationen; wir sehen nur Lösungen. Für uns gibt es keine Aussichtslosigkeit, lediglich Augenblicke, die logisch aufeinander folgen.

Auch der Selbstmörder erkennt bald den Weg aus seiner vermeinten Ausweglosigkeit – doch leider zu spät. Er ringt verzweifelt um den Leib, den er soeben gewaltsam verlassen hat, und möchte in ihn zurück. Doch dieser Leib befindet sich nunmehr auf einer anderen Frequenz, die noch weiter entfernt von ihm ist als der tiefste Punkt des Meers von der Erdoberfläche. Man kehrt nicht mehr in ihn zurück. Deshalb nennen wir diesen Zustand den Horror der Erkenntnis.

III

Mit einem Mal wurde der Schmerz unerträglich. Wie Lichtstrahlen aus einem Prisma strömten Gefühlsregungen aus mir heraus, so geschwind, dass ich sie gar nicht als solche wahrnahm. Leid und Freude berührten sich wie Lamm und Löwe aus einer Paradiesszene: Wärme gegen Wärme. In mir tobte eine Wut. Keine Wut, die gegen jemand oder gegen etwas gerichtet war, es war die reine Wut, geläutert, tierisch, brutal, und doch mit ihrer Umwelt in Einklang, eine Wut, die ich mir fleißig angespart hatte: Endlich war sie heimgekehrt, so wie wenn der Nordwind im Norden ruht, die Python den Baum umwindet, der Tiger im hohen Gras liegt.

Dann meldete sich die Angst, und ich fürchtete mich. Ich fürchtete mich, aber ich wusste, dass auch die Angst sich fürchtete. Ich hatte Mitleid mit der Angst, nahm sie zu mir und sagte, „Wir fürchten uns beide“, und auch die Angst kehrte heim, nahm Platz unter meinen Gefühlen, jedes Gefühl Herrscher des eigenen Reichs. Sie wohnten Grenze an Grenze mit dem Nachbarn, doch nicht nur nebeneinander, sie vermengten sich wie Wolken, konnten sich in furchtbare Gestalten verwandeln.

Ich war aber derer Gesamtheit, und sie waren ich. Ein Wind wehte in mir, und Himmelsflecken (oder wie auch immer man das nennt, wenn auf einmal die Wolkendecke spröde wird) erschienen. Die große Stille breitete in mir Freude aus. Ich war wach. Namen, Schauplätze, Erinnerungen zogen an mir vorüber, und alles verriet mir seinen Sinn, so dass die Vergangenheit mir folgte wie ein braver Hund. Ich war ihr Herr.

Alles ein Film, sagte ich, über diese Vergangenheit. Alles ein Film. Ein Film vor meinen Augen. Alles, was ich sehe, sehe ich in ihm und durch ihn. Es gab nichts, das ich noch nicht gesehen hätte, was nicht in diesem Film zu sehen wäre. Meine Liebe, meinen Hass, meine Eitelkeit, meinen Neid. Alles Dinge, die ich durch diesen Film hindurch
sehe.

Ich wollte den Film von vor den Augen wegreißen, in Brand stecken, vernichten, doch er blieb an meinen Fingern haften, elastisch und klebrig wie ein Spinnennetz, wobei ich nicht nur die Fliege, sondern die Spinne war, die das Netz, das ich nicht entziehen konnte, gewebt hatte. Oder: Schaffte ich es, eine Schicht abzuziehen, fand ich eine darunterliegende. Denn jede Schicht, einmal abgezogen, deckte die nächste auf, und das kurze Glück war wieder dahin. Denn was darunterlag war, so stellte ich fest, war das Ebenbild dessen, was gerade abgeschält wurde. Das Abblättern nahm kein Ende. Wie eine Schlangenhaut erneute sich der Film meines Lebens.

Wie soll ich das wegreißen, was ich bin? Das war das eigentliche Problem. Soll ich nicht das bleiben, was ich bin? Wie etwas abwerfen, was ein Teil von mir war oder ist, ohne mich dabei zu entstellen? Die Hand abhacken, weil ich die Finger nicht mag? Die Backe aufreißen, weil ich das Gesicht verachte?

War dieser Film nicht meine Haut? Und der Hass, die Wut, der Neid: Waren wir nicht eins? Soll ich mich selbst entsorgen? Kann ich? Auch wenn ich es wollte? Und wohin denn? Und wie entsorgen? Was entsorgen?

Ach, du liebe Zeit. Welch eine Katerstimmung. Als hätte ich zu lange gefeiert. Und auf einmal, unvorstellbar nüchtern und leicht traurig, wache ich am nächsten Tag auf und denke: Die Feier ist vorbei.

Und jetzt? Wohin? Was tun? Und wer soll mir solche Fragen zuverlässig beantworten? Ich mache das Fenster auf, mein Herz schwermutig. Noch nie war der Himmel so blau wie heute. Hat es letzte Nacht geregnet? Ach, und die Luft prickelt. Der Wind wispert etwas in die Ohren. Alles riecht gut. Ich lebe. Jetzt gehe Ich spazieren.

IV

Einst habe ich mich für die Nachkommenschaft der Engel gehalten, für einen, der in eine irdische Gebärmutter hinterlegt wurde, um seinen berechtigten Platz unter der Botenordnung einzunehmen. Ich wurde mit dieser Vorstellung eins. Ich verheimlichte sie vor den Stolzen und den Hoffnungslosen. Sie machte mir Mut, wenn der eigene Mut schwächte. Doch wie erklärt man die Lücke zwischen Glauben und Wirklichkeit, die nicht überbrückbar war? Also erklärte ich mich zum schwarzen Engel, zum Gestürzten um, und verwandelte den eigenen Mythos in eine Tragödie, manchmal eine Komödie. Schwarze Engel haben den Überblick, sind aber unfähig zu handeln, leiden mit, können aber keinen Trost spenden, begehren, können aber nicht lieben, rufen zu der Engelsordnung, können keine Antwort vernehmen oder verstehen.

V

Das Hassen führte dazu, dass ich die Liebe nur als Liebelei erlebte, was einem Todesurteil gleich war oder noch schlimmer, einem Exil, das mich von jeder noch möglichen Intimität ausschloss. Ich war beides, Verurteilter und Richter. Baudelaire sagt, die Wunde und das Messer.

Ich bildete mir ein, ich entsteige der Geschichte, war aber nicht sicher, ob ich das konnte oder ob die Geschichte vielmehr mich zum Wegwerfen freigestellt hatte als einen, der seinen Platz nirgends finden konnte.

Ich hielt am Engelmythos fest. Doch: Um die Wahrheit zu sagen, habe ich wenig Ahnung von Engeln.

Mir war jedenfalls klar, dass ich nicht der Einzige bin, der eine Lüge lebt. Es hat mich aber nicht interessiert, welchen Lügen die anderen verfallen waren. Das habe ich jedenfalls gedacht.

VI

Ich bereite mich auf meine Flucht vor. Seit Jahren arbeite ich daran. Seit Jahren bin ich mit meinen Befreiern in Funkkontakt. Sie haben mich Einfallspinsel sorgfältig und geduldig aufgeklärt, wie das vor sich geht. Sie haben mir das Geheimnis des Geschlechtlichen und des Geldzaubers anvertraut und mir die Kunst der politischen Macht offenbart. Sie haben mich ins Mysterium der Drogen, des Alkohols und der Ernährung eingeweiht und mir den rätselhaften Widerspruch in den Gesetzen der Weltallsteuerung offengelegt.

Lebewohl also. Ihr werdet mich noch eine Zeit lang auf der Straße sehen, ich bin aber nicht mehr einer von euch. Ich werde zwar unter euch sein, aber ihr seid für mich wie Schatten, so wie ich einer für euch bin. Ihr werdet mich nicht erkennen, noch über mich bestimmen können, doch keiner kann sich vor mir verheimlichen. Ich sehe alles.

Ich entfliehe der Schwerkraft. Die Reibkraft hat auf mich keine Wirkung mehr. Es handelt sich um Krieg: Krieg gegen den Stickstoff, den Sauerstoff, den Kohlenstoff. Sie fesseln und ernähren zugleich.

Ich hinterlasse lediglich diese Wortspuren, die Brandmale eines harten Kampfes, Giftstoffe für die lügende Zunge, der Erdatmosphäre feind, die einzigen Segnungen, die ich noch zu vergeben habe.

Und nun nehme ich Abschied. Keiner entkommt selbst, ohne den anderen die Flucht zu ermöglichen.

Ich bin ein Stern. Bis ihr dies lest, ist das Licht dieser Worte schon eine Million Jahre alt.

VII

Die Ereignisse eines langen Lebens: nur mehr Worte auf einem Blatt – eine zahme Folge von Phonemen und Silben, deren Entstehung so viel Zeit, so viel Leid umfasste, dass sie wie eine Ewigkeit erschien. Und dann wurde die Vergangenheit – einst der Feind – in ihre Schranken verwiesen – mit Grenzen versehen. Ihre Macht, die mir in Tausenden von Bildern und Abenteuern landauf, landab Angst gemacht hatte, wurde durch eine einfache Erkenntnis zunichte gemacht. Ja, ich war der Hintermann der Morde. Ich war es. Ich weiß es jetzt. Ich war derjenige, der dich nicht geliebt hat. Ja, es stimmt. Ja, und ich war es, der die Finsternis heraufbeschwor und die Attentäter angeheuert hatte, die mich quälen sollten, wenn ich liebte, wenn ich wahrlich liebte. Ja, sie hörten alle auf meine Stimme, ich habe das alles vergessen, aber ich habe sie beauftragt. Ja, und die Schüchternheit und die Arroganz, das waren meine Sklaven, und die Blindheit war meine blinde Liebe, ja, und die zusammengebrochene Leidenschaft, die Faust und der Schlag. Ich: reumütig oder böse, nach Vergebung flehend oder sie ablehnend, Asket oder lasterhaft, einen Gott der Güte oder des Bösen anflehend, um die schmerzhaften Wunden zu heilen oder um sie noch tiefer zu schneiden, rötlicher zu färben; hoffnungsvoll oder hoffnungslos, ständig am Kämpfen. Ich. Immer die Unruhe, der Krieg gegen das Schweigen und die Stille, großer Ansturm gegen die Reglosigkeit, ein Kampf gegen das, wogegen keiner kämpfen kann: Krieg bekriegte Frieden, und beide bekriegten die Stille.

Aber jetzt sterbe ich. Du hast deinen Teil des Handels eingehalten, nun halte ich meinen ein. Sinnlos, sich zu fragen, warum all dies so lange gedauert hat. Sinnlos, sich zu fragen, ob es wirklich so hätte werden müssen. Sinnlos, sich zu fragen, warum es überhaupt geschehen ist. Ein unüberwindbarer Kampf ist nunmehr zur Literatur geworden. Eine Vergangenheit, die keine Flucht duldete, existiert auf einmal nicht mehr. Die einstige Sehnsucht nach der Freiheit kommt mir auf einmal albern vor. Die tausenden kleinen Tode, die ich gestorben bin, lassen sich mit diesem einen Tod nicht vergleichen. Noch ein letzter Atemzug, bevor ich fertig bin.

Aus: "Franz und Narziss"

Add new comment

Filtered HTML

  • Web page addresses and e-mail addresses turn into links automatically.
  • Allowed HTML tags: <a> <p> <span> <div> <h1> <h2> <h3> <h4> <h5> <h6> <img> <map> <area> <hr> <br> <br /> <ul> <ol> <li> <dl> <dt> <dd> <table> <tr> <td> <em> <b> <u> <i> <strong> <font> <del> <ins> <sub> <sup> <quote> <blockquote> <pre> <address> <code> <cite> <embed> <object> <param> <strike> <caption>

Plain text

  • No HTML tags allowed.
  • Web page addresses and e-mail addresses turn into links automatically.
  • Lines and paragraphs break automatically.
CAPTCHA
This question is for testing whether you are a human visitor and to prevent automated spam submissions.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.