Ein amerikanischer Austauschschüler schwärmte neulich vor meinem Sohn über die Wunder der deutschen Sprache. Es gebe, zum Beispiel, für den etwas vulgären neudeutschen Begriff "Plattenbauwichser“ keine genaue englische Übersetzung, stellte er mit Staunen fest.
"Woher hat dein Bekannter dieses Wort?“ habe ich meinen Sohn gefragt.
"Keine Ahnung“, sagte er. "Wir haben uns über den Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Englischen unterhalten. Ich habe eingeräumt, dass das Englische den größeren Wortschatz hat. Dafür meinte er, dass man mit der deutschen Sprache beliebig viele Begriffe erfinden könne, indem man Wörter aneinanderreihe wie eine Perlenkette. ‚Plattenbauwichser’ sei sein Lieblingsbeispiel.“
Der Austauschschüler aus meinem Heimatland hat etwas beobachtet, was auch Mark Twain Ende des 19. Jahrhunderts aufgefallen war. Der berühmte Schriftsteller bezeichnete die ellenlangen Worterzeugnisse, die die deutsche Sprache am laufenden Band produzieren kann als "große Gebirgsketten, die sich über die gedruckte Seite ausdehnen“.
Aber ganz ehrlich: Jeder Deutsche ziehen gerne Ausländer mit dem beispielhaften "Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän“ (oder wie manche sagen: "Niederdonaudampfschifffartsgesellschaftskapitän") auf. Hat man diesen Begriff aber jemals ernsthaft in einem Satz verwendet? "Milchtütchenverschlusssammler“ hingegen habe ich vor ein paar Jahren in einer Zeitung tatsächlich entdeckt. Und es wäre ein Einfaches, daraus einen "Milchtütchenverschlusssammlungstrieb“ zu machen.
Fakt ist: Das Deutsche ist geradezu prädestiniert, solche lange Lulatsche zu erfinden. Zum guten Stil gehören sie aber keineswegs. An der Webseite "mediumunikate.de“ stieß ich auf Folgendes: "Eliminieren Sie Mammutwörter – Der Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän macht Ihre Botschaft nicht verständlicher. Setzen Sie Synonyme ein oder trennen Sie solche Wortmonster durch Bindestriche.“
So viel zu der Regel, und sie ist bestimmt vernünftig. Doch jetzt lassen wir die Sau raus mit ein paar grotesken Wortmonstern der deutschen Sprache – von mir für Sie extra ausgesucht: Zum Beispiel: "Donaudampfschifffahrtskapitänswitwenversicherungspolicen-vermittlerprovisionsvorsteuerabzugsberechtigungsklausel“. Oder: "Baumwolldamenunterwäschehandelsvertretergeschäfts-wagengaragentorgequietsche“.
Natürlich kann man, wenn man möchte, auch auf diese langen Lulatsche noch eins draufsetzen. Nebenbei: "Lulatsch“ wird aus "lau“ in der Bedeutung von "träge“ und "Laatsch“, einem "langsamen Spaziergang“ zusammengesetzt.
Im Englischen brüsten wir uns mit zwei berühmten Begriffsschlangen: Die erste, "Antidisestablishmentarianism“, ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und bezeichnet jemanden, der gegen den "disestablishmentarianism“, das heißt, gegen die Trennung von Kirche und Staat ist. Die zweite – und bei weitem das längste Wortmonster im Englischen ist "supercalifragilisticexpialidocious“ und wird mit "schön“ übersetzt. Es hat dank dem Walt Disney Film "Mary Poppins“ (1965) ein gewisses Renommee erlangt – da kommt es als Lied vor – , ist aber keine Disney-Erfindung. Meine Mutter kannte diese Vokabel bereits um das Jahr 1930. Sicherlich das Erzeugnis eines heute unbekannten Worteschmieds des angehenden 20. Jahrhunderts.
Fest steht aber: Im Wettkampf um die längsten langen Lulatsche werden wir Englischsprechende hinter der deutschen Sprache immer zurückstehen. Besser gesagt: Wir werden den kürzeren ziehen.
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