Heute werfen wir einen flüchtigen Blick aufs Innenleben der deutschen Sprache, computermäßig ausgedrückt: Wir schauen in die "Systemkonfigurierung“. Tief einatmen also und langsam ausatmen. Es kann kompliziert werden, obwohl es nur um zwei Buchstaben geht, die jeder kennt und die jeder täglich unzählige Male verwendet, ohne sich ein einziges Mal darüber Gedanken zu machen: Es geht ums "ge-“.
Diese zwei Buchstaben kann man nicht einmal als Wort bezeichnen. Ganz offiziell gelten sie als Vorsilbe. Aber stellen Sie sich die deutsche Sprache ohne dieses "ge-“ vor. Unmöglich. Die Sprache würde in sich zusammenfallen, wie ein Holzgerüst ohne Nägel.
Fangen wir mit der lieben Verwandtschaft an, denn das deutsche "ge-“ hat Verwandte in anderen indogermanischen Sprachen. Die bekanntesten sind das lateinische "cum“ und das griechische "syn“: zu Deutsch "mit“. Und genau das ist die ursprüngliche Bedeutung von "ge-“.
Dass "ge-“ einst „mit“ bedeutete, erkennt man noch in den sogenannten "kollektiven“ Nomen, zum Beispiel "Gebirge“, "Gewässer“, "Gewölk“, "Gewürz“. Solche Wörter deuten auf eine Ansammlung, ein Miteinander: "alle Berge miteinander“, "alle Wolken miteinander“ usw.
Wahrscheinlich hatten die Sprecher des Mittelhochdeutschen vor etwa tausend Jahren das Gefühl für "ge-“ im Sinn von "mit“ noch nicht ganz verloren. Denn aus dieser Zeit stammt das deutsche Wort "Gewissen“. Damals war es eine Lehnübersetzung aus dem lateinischen "conscientia“, das damals in der Sprache der Juristen „Mitwissen“ bedeutete. Lateinisch "Scientia“ heißt "Wissen“.
Doch der winzigen Vorsilbe fielen schon zu urgermanischen Zeiten verschiedene Aufgaben zu. Man benutzte sie zum Beispiel, um abstrakte Nomen zu bilden. Diese wurden üblicherweise von Verben abgeleitet, zum Beispiel, "Geschrei“ von "schreien“ oder "Getue“ von "tun“, "Gezwitscher“ von "zwitschen“. Wie es dazu kam? Keine Ahnung.
Übrigens: Es kommt auch vor, dass ein "ge-“ Versteck spielt, besonders, wenn ihm ein "L“ folgt wie in "G(e)laube“, "G(e)leis“, "g(e)leich“, und "beg(e)leiten“.
Aber jetzt wird es schwierig, weil wir zu einer exotischen Feinheit der alten indogermanischen Sprachen übergehen. Schauen Sie sich folgende Verbpaare an: "brauchen“, "gebrauchen“, "reichen“, "gereichen“, "langen“, "gelangen“. "hören“, "gehören“. Sie merken schon. Mit dem „ge-“ wird der Sinn des Wortes verändert. Diese Sinnverwandlung verwandter Vokabeln nennen die Grammatiker "Aspekt“. Das heißt: Das Verb kann seine Bedeutung – dank einer kleinen Veränderung – aus verschiedenen "Aspekten“ (sprich "Blickwinkeln“), vermitteln, So weit so gut.
Die urindogermanischen Sprachen unterschieden zwischen zwei Aspekten (Nebenbei: Dieses System ist in den slawischen Sprachen bis heute erhalten geblieben):"„durativ“, das heißt, dass die Tätigkeit, die das Verb beschreibt, andauert, und "perfektiv“, der Sinn des Verbs wird also "perfektioniert“, "vervollkommnet“. Beispiel: Man kann in aller Ewigkeit etwas "brauchen“; doch wenn man etwas "gebraucht“, dann wird dem "Brauchen“ ein Ende gemacht. Alles klar? Oder: Nach dem "Gelangen“ hört man auf zu "langen“. Irgendwie logisch.
Noch ein letzter Gebrauch des vielseitigen "ge-“. Wahrscheinlich haben Sie schon darauf gewartet. Im Deutschen wird, wie jeder weiß, das "Partizip Perfekt“ durch die Vorsilbe "ge-“ formiert (zumindest meistens): "gegangen“, "getan“, "gelesen“, "gepanscht“. Warum also mit "ge-“? Ganz klar: Weil hier eine Vollendung, eine Perfektionierung zum Ausdrück gebracht wird. "Ich habe es gesehen“. Das heißt: Mit dem "Sehen“ ist nunmal vorbei. "Martha hat gegessen“. Also Schluss mit dem "Essen“ usw.
Für heute genug des gelehrten Gegackers . Das Gerede über das “ge-“ ist hiermit vollendet.
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