Jeder kennt George Orwells 1984 – auch diejenigen, die es nie gelesen haben. Mittlerweile, so vermute ich, gibt es immer weniger Menschen, die sich wahrhaftig an dieses Jahr erinnern. Die meisten waren entweder zu jung oder noch nicht auf der Welt.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Ende 1983 witzelten viele: Hoppla, jetzt kommt das verfluchte Jahr. Passiert was? Dem war nicht so. 1984 zog ich mit meiner Freundin (heute meiner Frau) zusammen. Wir lebten, wie es nach der damaligen dt. Jurisprudenz hieß, in „Konkubinat“. Mein künftiger Schwiegervater bangte darum, die Sittenpolizei würden ihn verhaften. In dem Jahr haben wir, d.h. ich und meine Zukünftige, sechs Wochen in Tunesien in Monastir verbracht. Da erfährt man nicht wenig. Als wir nach Deutschland zurückkehrten, kam der Schock: In der alten Wohnung meiner Konkubinatspartnerin – wir waren noch nicht umgezogen – wurde eingebrochen.
Kurz danach aber fanden wir im Keller der alten Wohnung eine verwahrloste, graufarbige Katze, die sich dort verkrochen hatte. Ich packte sie und brachte sie in die Wohnung. Sie wurde panisch und sprang aufs Fensterbrett des offenen Fensters, als wollte sie in die Freiheit herunterspringen. Ich machte aber eine Dose Thunfisch auf und legte diese aufs Fensterbrett. Die Katze schaute runter in die Tiefe, dann auf die Thunfischdose. Dann schaute sie wieder in die Tiefe und dann wieder auf die Thunfischdose. Letztlich entschied sie sich fürs Fressen und lebte fortan bei uns. Nach dem ersten Putz stellte sich heraus, dass ein Teil es Fells schneeweiß war. Wir nannten sie Catulla.
Ja, all dies fand 1984 statt. Hat sich Orwell mit seinem düsteren Zukunftsbild vertan? Bzgl. der Jahreszahl ja. Von der Idee her natürlich nein.
Orwell stellte sich in seinem Buch Fernsehapparate in jeder Wohnung vor, die sich nicht abschalten ließen und die endlose Propaganda herausspuckten. Noch dazu: Diese Geräte vermochten einen auszuspionieren. Kommt Ihnen dies bekannt vor, liebe Onliner?
Ja klar! Längst leben wir im Jahr 1984. Denken Sie an die „Influencers“ oder die prüde Zensur (dafür aber anzügliche Scharfmacher) der großen Spieler (Google, Microsoft, Meta, Apple usw.) der Techindustrie. Orwell wäre entzückt.
Und natürlich das „Neusprech“. Wer kann mir bitte erklären, was ein „Kreisverwaltungsreferat“ ist? Oder ein „Gegensatzpaar“ (R. Habeck), oder eine „Friedensinitiative“? Oder eine „militärische Sonderoperation“ à la Vladimir Putin. In den USA heißt das „Arbeitsamt“ Department of Human Resources“. Donald Trump bezeichnete als „Fake News“, alles, was nicht in seinem Sinne war. Inzwischen wird dieser Begriff – ohne Übersetzung – in verschiedenen Sprachen gebräuchlich.
Nebenbei. Orwells Buch wurde als Politsatire geschrieben. Mit „1984“ meinte er eigentlich 1948. D.h.: Für ihn war schon alles längst eingetroffen.
Ich bin nicht so pessimistisch wie Orwell. Und zwar aus folgendem Grunde: Um ein System à la Orwell zu realisieren, braucht man zuverlässige nützliche Idioten. Nützliche Idioten sind aber niemals zuverlässig, gerade deshalb, weil sie Idioten sind!
Doch genug Orwell, genug „Neusprech“. Heute möchte lieber über „Neuspréch“ kurz berichten. Ein einfacher Akzent aufs „E“ unterscheidet zwischen dem einen und dem anderen Begriff.
„Neuspréch“ ist ein Kunstprojekt der Hamburger Künstler Oliver Ross und Simon Starke und soll genau das Gegenteil bewirken wie die Sprachakrobatik eines Neusprechs. Vermittels bildender und grafischer Kunst stellen die zwei Künstler mit Schärfe den schlafwandelnden Sinn von Sprache in Frage. Genauer gesagt: Sie befreien die Sprache aus dem Gefängnis der Begriffsverdummung. Heute keine lange Erklärung. Bin müde. Vielleicht möchten Sie etwas mehr über das Werk dieser Künstler wissen. Suchen Sie im Internet unter „Neuspréch“.
Vergessen Sie den Akzent aufs „E“ aber nicht. Manchmal sind es kleine Akzente, die einem Neusprech von einem Neuspréch unterscheiden.
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Neusprèch
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