Schon von den „Sensitivity Readers“ gehört? Oder soll es vielleicht lieber „Sensitivity Reader*Innen“ heißen?
Womöglich ist Ihnen dieser Begriff schon bekannt. Denn sie sind in Deutschland bereits eingetroffen. Es fehlt nur noch eine sensible deutsche Übersetzung, um das auszudrücken, was dieser neue Beruf beinhaltet.
Eigentlich geht es um nix Neues. Früher (und in manchen Ländern noch immer) sagte man dazu „Zensur“, und jene Sittenrichter, die diese Zensur ausübten, bezeichnete man als „Zensoren“. Heute würden wir wohl „Zensor*Innen“ sagen.
Diese Sittenrichter hatten (und haben) die Aufgabe, diverse ungebührliche Ideen, Sprachformulierungen und Gefühle zu entsorgen, damit sich Künstler und Denker die Grenzen des Anstands zu respektieren lernen.
So entstand der sog. „sozialistischer Realismus“ oder sein Gegenteil die „entartete Kunst“.
Aber zurück zu den „sensitivity Readers“. Momentan scheint dieses Phänomen in den USA so etwas wie ein Traumberuf zu sein. Diese „Readers“ haben die Aufgabe, ihre Mitbürger vor diversen Ungebührlichkeiten in der Literatur zu schützen. (Ich weiß nicht, ob es bereits etwas Ähnliches in der bildenden Kunst gibt, und wenn ja, kenne ich die Berufsbezeichnung nicht).
Manche Amerikaner werden in den letzten Jahren merklich egalitär. Will sagen: Alle Menschen sollen als gleich gelten, damit keiner unter Nachteilen im Leben zu leiden habe. Klingt gut. Unterschiede werden sozusagen unter den Teppich gekehrt, damit Chancengleichheit vorherrscht. Um dies zu gewährleisten, ist einiges geschehen. Zum Beispiel: Autoren dürfen nur noch das beschreiben, was sie selber sind. Alles sonst gilt als „cultural appropriation“, etwa „die Usurpierung von Eigenschaften, die nicht die eigenen sind“. Ja die Übersetzung klingt unbeholfen, aber wie soll man sonst diesen komplizierten Anspruch verdeutschen?
Wenn ich mich nicht täusche, dürfen Männer deshalb nicht versuchen in Frauenrollen zu schlüpfen – es sei denn selbstverständlich, man wechselt das Gender permanent. Ein heutiger „sensitivity Reader“ hätte, z.B., Gustave Flaubert getadelt, weil er so intim übers Innenleben von Madame Bovary geschrieben hatte. „Non non non, Monsieur Flaubert, schreiben Sie lieber über einen Mann!“, hätte der Leser gesagt. Wobei Flaubert höchstwahrscheinlich geantwortet hätte: “Madame Bovary, c’est moi!“ (Nebenbei: Dies ist O-Ton).
„Sensitivity Readers“ achten außerdem darauf, dass man keine Witze über dicke oder dünne, kleine oder große Menschen macht, dass man zwischen Sehenden und Blinden, Hörenden und Tauben, Gehenden und Lahmen nicht unterscheidet, etc. Man darf auch nicht über gefühlte Unterschiede hänseln oder ironisch schreiben. Alles soll nüchtern und gerecht vonstattengehen.
All dies wissen Sie bestimmt schon. Sie wissen auch, dass die Werke des engl. Autors Roald Dahl neu überarbeitet werden, damit sie niemandem die Gefühle verletzen. Auch Agatha Christie wird neuerdings unter die Lupe genommen.
Dieses „Sensitivity“-Phänomen breitet sich momentan, wie gesagt, vor allem in den USA und im UK aus. Und von daher engagieren viele Verlage „sensitivity readers“, damit sich Autoren – und Autorinnen – an den neuen Regeln zu halten lernen.
In Deutschland ist die Branche brandneu. Weshalb man nicht einmal einen dt. Begriff für diesen Berufszweig gefunden hat. „Sittenwächter“ oder „Sittenrichter“ klingt viel zu streng für das, was gemeint ist.
Das Schlüsselwort lautet ohnehin „sensitivity“. Auf Deutsch „Empfindsamkeit“ oder „Mitgefühl“. Das wäre auf Deutsch auch mit „sensibel“ zu übersetzen. Vielleicht wäre eine passende Übersetzung „Sensibilitätsleser“? Nein, klingt scheußlich. „Empfindsamkeitsleser“ hört sich auch nicht besser an. Ich muss noch drüber nachdenken.
Nebenbei: Das dt. „sensibel“ und das engl. „sensible“ sind – wie man sagt – „falsche Freunde“. „Sensible“ bedeutet „vernünftig. „Sensibel“ lässt sich mit „sensitive“ übersetzen. Aber vielleicht sind die „sensitivity Readers“ ebenso falsche Freunde!
Ach! Noch etwas habe ich vergessen zu erwähnen: Denken Sie zweimal drüber nach, falls Sie auf die Idee kommen, selbst „sensitivity Reader“ werden wollen. Ich habe gelesen, dass dieser Beruf sehr schlecht bezahlt wird. Dazu geht man dem Risiko ein, selbst verhöhnt zu werden. Und das ist genau das Gegenteil vom Zweck der „sensitivity Readers“ …
Comments
Sensibelchen
Keine Sorge,
sensitivity curators
Warte nur,
Bilderstürme...
Ostern?
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