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Ist Liebe proaktiv?

Erinnern Sie sich, als Sie das erste Mal jemandem, den Sie besonders gerne hatte, “Ich liebe dich“ deklarierten? Ich schon. Es war auch das letzte Mal.

Meine Erfahrung mit der Floskel „ich liebe dich“ war im Grunde eine Ausgeburt eines verflossenen Zeitgeists. Will sagen: Es gehörte damals in den USA zum guten Ton dem Schatz – Neudeutsch „der Schatzin“ – „ich liebe dich“ zu sagen.

Ich gehe davon aus, dass es diese Sitte nur deshalb gegeben hatte, weil wir mit Hollywood-Filmen gefüttert wurden. Ein Film zu produzieren, in dem einer seinem Schatzerl „ich liebe dich“ nicht zuhauchte, war damals undenkbar.

Anders gesagt: Ein Mann hatte die Pflicht, seinem Haserl „ich liebe dich“ expressis verbis auszuposaunen.

Notabene: Ich schreibe hier „Mann“. Denn damals oblag es dem Mann, diese Erklärung in Worten zu fassen. Nur dann durfte die geliebte Frau „ich liebe dich auch“ antworten. Hätte sie die Prozedere initiiert, hätte sie als vorlaut bzw. anmaßend gegolten. Der so überrumpelte Mann hätte sich gleichsam als Fliege im Spinnennetz erachtet. By the way: Damals gab es noch keine Diverse. Sie spielen hier folglich keine Rolle.

Aber zurück zu „meiner Wenigkeit“, wie man auf Deutsch über sich zu reden pflegt. Ich war damals vielleicht 19 und bereits einige Monate mit IHR zusammen. Täglich wurde mir klarer, dass ich bald meiner Pflicht nachgehen musste. Zusehends wuchs der Druck. Mit Sicherheit wartete meine junge Freundin darauf. Auch sie war ein Geschöpf dieses Zeitalters.

Wir fuhren in meinem Wagen zu ihrer Wohnung. Nein, nicht ihre eigene Wohnung. Sie lebte selbstverständlich mit Vater, Mutter und Bruder. Dann hielten wir vor der Tür an und kuschelten im Vordersitz ein wenig, wie damals üblich. Nun ahnte ich, dass der Augenblick gekommen sei…

„Ich…ich…ich…ich…“, stammelte ich. Ihre Augen wurden immer größer, ihr Blick voll Neugier. „Ich…ich…ich…ich…“ stammelte ich weiter. Doch ich stellte fest: Die Zunge wollte partout nicht mitmachen. Es herrschte Widerstand in mir. „Ich…ich…ich…ich…“, sagte ich. Derweil schaute sie mich immer erwartungsvoller an. „Ich…ich…ich…“ Die Worte stockten irgendwo in der Tiefe, und ich wusste nicht, warum. „Ich…ich…ich…“ Und dann geschah es. Ich riss mich kräftig zusammen…und: „Ich…ich…ich…LIEBE…dich.“

Irgendwie peinlich, aber ich war auch erleichtert. Ihr Blick blieb unterdessen ruhig, und sie antwortete…was sonst? „Ich liebe dich auch.“

Ein Jahr später wollten wir uns verloben. Am Tag nach der Verkündigung packte mich, erst 20 Jahre alt, der Horror. Mir war auf einmal klar, dass ich mit dieser Verlobung dabei war, mein junges Leben ganz zu verspielen. Nach einer Woche war es aus mit uns. Jeder ging seinen Weg.

Seitdem sage ich NIE „ich liebe dich“ – und wenn ich auch durchaus in der Lage bin zu lieben. Ich mag diesen Satz einfach nicht.

Als ich im letzten Jahrtausend in Deutschland ankam, erfuhr ich, dass man hierzulande so etwas nie sagt. „So reden nur die Amis“, wurde mir allerseits weisgemacht.

„Was sagt ihr?“

„Wir sagen, ‚Ich hab dich lieb‘.“

Das war damals. Längst ist „ich-liebe-dich“ im Deutschtum beheimatet. Wer Netflix glotzt, kann dies besser bestätigen als ich, da ich netflixlos bin.

Nebenbei. Ich bin auf dieses Thema nur deshalb gekommen, weil ich neulich über den Begriff „proaktiv“ nachgedacht habe. So heißt es auf Neudeutsch, wenn man (oder frau) die Initiative nimmt. Die „Proaktivität“ hat Deutschland längst im Griff.

Diese Vokabel wurde aber glatt aus dem Neuenglischen aufgeschnappt. Das ahnt aber jeder. Auf Englisch sagt man „proactive“. Doch auch „proactive“ ist ein Neuling. Ich habe diesen Begriff zum ersten Mal während eines Amerikabesuchs 1997 wahrgenommen und war nicht sicher, dass ich verstand, was damit gemeint war. Ich mochte das Wort aber auf Anhieb nicht.

Inzwischen weiß ich, dass es sich hier um einen Terminus aus dem psychologischen Wortschatz handelt. Er wurde zum ersten Mal ca. 1933 aus der Taufe gehoben – und zwar als Gegensatz zu „reaktiv“.

In meinem Webster’s Dictionary von 1996 sucht man nach diesem Wort vergeblich. Gleiches gilt für „proaktiv“ als dt. Begriff. In meinem alten Duden „Großes Wörterbuch der deutschen Sprache“ steht er ebenso nirgends.

Heute leben wir in einer proaktiven Zeit. Aber wissen Sie was: Es gab schon immer diese Proaktivität, auch damals, als es noch kein gängiges Wort dafür gab. Nein. Stimmt nicht. Früher sagte man ganz einfach, wenn man die Initiative ergreifen wollte: „ich liebe dich“.

Comments

Ich schlage eine europäische Gegenvariante vor: "Ich liebe Dich KOMMA LANGER GEDANKENSTRICH meistens." Das wäre nicht so absolutistisch und kitschig und vor allem auch realistischer!

Das mit der Liebe war schon immer ein schwieriges Thema. Die Griechisch sprechenden Frühchristen suchten sich das Wort "agape" aus, um dieses Gefühl zu beschreiben. Alle anderen Begriffe waren bereits zu fleischlich geworden. "Meistens" ist sicherlich ein vernünftiger Zusatz. Wer kann wirklich - ohne ein "Meistens" - lieben? Eine Frage für die Philosophen, Psychologen und Theologen...vielleicht auch für die Juristen Viele schöne Grüße PJ

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