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Eine Meisterstunde für Deutschkenner

"Zunehmend aufregend“ oder „zunehmend aufregender“? – das ist die Frage.

Jeder Schriftsteller hat seine Lieblingswörter. Zu meinen zählt "zunehmend“. Ich betrachte es kaum mehr als Wort, sondern als Farbton, den ich zuweilen in meine Wortbilder einpinsele, um das langsame Aufbäumen eines Zustands zu vermitteln. "Seine Selbstsicherheit blühte zunehmend auf“, zum Beispiel. Daraus entsteht ein bewegliches Bild, eine Filmaufnahme praktisch.

Ahnlich "zunehmend“ ist sein Schwippsschwager "zusehends“. Der "Duden“ berauscht sich in Poesie im Bemühen diese Vokabel zu definieren: "in so kurzer Zeit, dass die sich vollziehende Veränderung (fast) mit den Augen wahrgenommen werden kann“. Ist das nicht schön?

Doch, so sehr ich diese beiden Wörter schätze, sobald ich sie adverbial mit einem Adjektiv gebrauchebereiten sie mir Probleme. Und jetzt kommen wir auf meine eingangs gestellte Frage zurück: "Zunehmend aufregend“ oder "zunehmend aufregender“?

Früher war ich fest überzeugt, das "zunehmend aufregend“ zu bevorzugen sei. Doch dann erklärte mir die liebe A., es müsse "zunehmend aufregender“ heißen ("aufregend“ steht hier freilich stellvertretend für sämtliche adjektivische Verbindungen mit "zunehmend“, etwa "zunehmend groß“ oder "zunehmend größer“ und und und).

Nachdem A. mir eingeschärft hatte, dass man "zunehmend“ mit der Steigerungsform zu verwenden habe, begann ich, ahnungsloser Fremdsprachler, ihrem Rat bedingungslos zu folgen.

Aber nun schickte mir – nennen wir ihn Wilfried – eine Mail, nachdem er eine solche "zunehmend“-plus-Steigerungsform-Formulierung in einem Text von mir gelesen hatte. Er schrieb, ich zitiere: "Steigerung schon in 'zunehmend’“.

Inzwischen war ich ziemlich durch den Wind, und leider fehlt im "Duden“ ein Beispiel für "zunehmend“ mit Adjektiv. Für "zusehends“ wiederum gibt der "Duden“ folgende Abhilfe: "Sobald die Regen fallen, werden die Steppen fast zusehends grün“. "Zusehends“ mit der Grundform also. Gilt dies also auch für "zunehmend“?

Nun suchte ich im hehren Grimmschen Wörterbuch unter Stichwort "zunehmen/zunehmend“, fand aber zu meiner großen Überraschung nichts darüber. Nur unter "zusehends“ wurde ich wieder fundig. Hier entdeckte ich ein Beispiel, das den "Grimmschen Märchen“ entnommen wurde: "…und es wuchs da eine rübe; die ward groß und stark und zusehends dicker.“ Hmm. Nach "Duden“ heißt es "zusehends grün“, nach "Grimm“ zusehends "dicker“, einmal also die Grundform, einmal die Steigerung.

Unterdessen hatte A. ihren Nachbar J. um seine Meinung gebeten. "Klare Sache“, antwortete er. "'Zunehmend’ ist gleichbedeutend mit 'immer’ plus Adjektiv. Man sagt also 'die Blätter werden immer grüner’. Von daher muss es heißen, 'die Blätter werden zunehmend grüner’.“

Daraufhin interviewte A. ihren Nachbar Herrn St. "Wie soll ich es wissen?“ erwiderte er scharf, "schließlich war ich im Bankgewerbe tätig und bin kein Germanist. Nur eins steht fest, fast alle Menschen reden ein schlechtes Deutsch.“

Neugierig googelte ich nun unter Stichwort "zunehmend“ und erhielt prompt 14 Millionen Treffer – kein Witz. Eine sehr oberflächliche Stichprobe ergab, dass die meisten Menschen "zunehmend“ mit der Grundform und nur gelegentlich mit der Steigerung verwenden.

Sie sehen: Die Sache macht zunehmend frustriert. Oder frustrierter?

Endlich hatte ich Gelegenheit, das Thema am Telefon mit Wilfried näher zu erörtern. Wir waren uns bald einig, dass es hier gewissermaßen um die sprachliche Willkür handele, ein Phänomen, das sich also nur "nach Gefühl“ lösen lasse. So jedenfalls unsere Schlussfolgerung.

Doch vielleicht gibt es sehr wohl eine Regel, zumindest etwas Regelähnliches, die hier am Werk ist. Vielleicht geht es darum, dass man letztendlich von Fall zu Fall entscheiden muss, was genau ausgedrückt werden soll. Damit meine ich: "Er wurde zunehmend frustrierter“ würde voraussetzen, dass er sich bereits frustriert fühlte und nun noch frustrierter – also "zunehmend frustrierter“ geworden wäre. Wenn er lediglich "zunehmend frustriert“ wird, dann hat der Ärger kaum begonnen.

Die Sache wird also zunehmend aufregender.

Comments

Ich bin heute erst auf diesen Blogeintrtag gestoßen, kann aber hoffentlich etwas zur Klärung des Sachverhalts (großartiges Beamtendeutsch, oder? ;-) beitragen: Ihr erstes Beispiel: "Sobald die Regen fallen, werden die Steppen fast zusehends grün." - Hierbei geht es darum, dass die Steppe grün wird, also die Vegetation wächst. Die Steppe wird nicht "grüner" (denn was ist grüner als grün?), sondern es geht um den Wechsel von "nichtgrün" zu "grün". Daher ist hier "zusehends grün" absolut korrekt. Ihr zweites Beispiel: Die Rübe "ward groß und stark und zusehends dicker". - Hierbei geht es darum, dass die Rübe wächst, sie wird tatsächlich über die Zeit dicker und dicker. Daher wird sie korrekterweise "zusehends dicker".

Danke lieber Anonymous, beinahe hatte ich diese Glosse vergessen. Inzwischen leben die liebe A. und der lieber Wilfried nicht mehr. Aber Ihre Antwort hilft jedem, dem der Sachverhalt zunehmend und zusehends konfuser wird. Beste Grüße P.J. Blumenthal

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