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Zukunftsangst, Seneca und YouTube

Vielleicht werden Sie diesen Text kurz nach seiner Fertigstellung lesen oder auf ihn erst in ein paar Wochen oder Monate…oder gar Jahre… stoßen.

Egal. Die Gemütsregung, über die hier erörtert wird, die Zukunftsangst, wird es zu jeder Zeit gegeben haben auch in der tiefsten Vergangenheit.

Zum Beispiel Seneca. Wahrscheinlich kennen Sie den Namen. Er lebte von 4 v. Chr. bis 65 n. Chr. und war Schriftsteller und Philosoph. Wenn ich mich nicht täusche, lief in letzter Zeit ein Kinofilm übers Leben Senecas an. Ich habe den Film nicht gesehen. Ich glaube, der Filmemacher wollte mit seinem Film die Idee verbreiten, dass dieser Seneca so einer war, der Wasser predigt und Wein trinkt.

Er mag auch recht haben. Aber so what.

Seneca war nicht nur talentiert als Schriftsteller und Philosoph. Er war auch der Lehrer des Kaisers Nero und ging ein und aus in den kaiserlichen Hof wie Sie vielleicht bei Starbucks. Er hatte auch einen großen Einfluss auf Nero – der übrigens nicht nur Bösewicht war. Denn der komplizierte Nero war einerseits Reformer in Rom und bemühte sich als Kaiser, den althergebrachten Einfluss des Senats (sprich: der „Oligarchen“) zu bändigen; andererseits war er tatsächlich nicht ganz normal im Kopf. Kommt in den besten Familien vor.

Vielleicht deshalb hat sich Seneca während seiner letzten Lebensjahre zunehmend vom kaiserlichen Hof distanziert. Er war sogar Mitverschwörer bei einem Aufbegehren gegen den exzentrischen Nero, was ihm schließlich zum Verhängnis wurde. Denn Seneca bekam den Befehl: Selbstmord zu begehen oder sich hinrichten zu lassen. Er entschied sich für Ersteres, was damals bei Menschen seines Standes üblich war.

Ich lese gerade ein Alterswerk Senecas: Moralische Briefe (Epistulae Morales). Das sind 124 zum Teil sehr lange Briefe, die der Autor an einen jüngeren Freund, einen Schriftsteller namens Lucilius, geschrieben hat. Die Themen sind bunt: Natürlich geht es meistens um philosophische Fragen. Doch zwischen den Zeilen erlebt man Rom durch Senecas Augen. Er erzählt viel aus dem täglichen Leben. Zum Beispiel, dass er seekrank wird und deshalb nicht mit dem Schiff fahren wollte. Wir erfahren, dass es im Erdgeschoss seines Hauses in Rom ein Fitness-Studio gegeben hat. Er beschreibt, wie es ist einem Konzert beizuwohnen und schildert sogar die blutrünstigen Gladiatorenkämpfe.

Auch die Zukunftsangst war bisweilen sein Thema. Einmal schrieb er: „Unglücklich ist, wer vor der Zukunft Angst hat.“ Ja, er war dagegen. Er war gegen jegliche Angst sogar und begründet dies mit dem Argument, dass man ohnehin über die Zukunft nichts wissen kann. Denn schließlich leben wir in der Gegenwart.

Nebenbei: Seneca war nicht der einzige Schriftsteller der Antike, der sich mit diesem Thema befasst hat.

Wie komme ich dazu, heute, über die Zukunftsangst zu schreiben?

YouTube hat mich auf die Idee gebracht. Ich mag YouTube, wenn es darum geht, Information über ein Lieblingsthema zu sammeln. Ich schaue mir, z.B., Videos über Fotoapparate, Musiktheorie, Mandoline Spielen, Info über elektronische Geräte, wenn ich etwas kaufen will, etc. Manchmal frage ich YouTube, wenn ich einen Tipp suche, wie man Fenster putzt oder Armatur sauber bekommt…usw.
In letzter Zeit stelle ich aber fest, dass YouTube irgendwie anders geworden ist.

Immer mehr finde ich mich mit einem Sammelsurium zeitverschwenderischen Infotainments konfrontiert, wo früher Videos, die meinen Interessen
entsprachen, dargeboten wurden. Die meisten dieser Videos wurden bereits zig Millionen Mal angeklickt. Beispiele: Einer erzählt, wie er fünf Jahre ohne Shampoo überlebt hat; oder will die Frage beantworten, wieso Mao nie Taiwan erobert hatte; oder man erfährt alles, was man wissen (oder nicht wissen) wollte, über die grausame Hinrichtung Robespierre usw. Noch dazu: Überall sind Videos von sog. „Influencern“, Menschen, die einen überzeugen wollen, etwas zu kaufen, und so tun, als wären sie unparteiisch, was sie nicht sind.

Was mich betrifft: Ich finde YouTube allmählich langweilig, und ich frage mich: O je. Wo führt dieser Nonsens hin? TikTok, YouTube, Instagram, Spotify. Die Info-Revolution wird zusehends zu einem Markt für multinationale Firmen. Und so bin ich bei der Zukunftsangst gelandet. In diesem Fall geht es um die Monetisierung der Kreativität.

Umso mehr Werbung in eigener Sache: Ja, auch ich – in Kollaboration mit meinem Sohn und einem Schauspieler aus London – habe ein YouTube Video veröffentlicht. Die gute Nachricht: Er ist kurz, und keine multinationale Firma ist mein Sponsor. Falls Sie Interesse haben, hier der Link:

https://www.youtube.com/watch?v=bHy90oIX6Rc

Nur wenn der „kleiner Mann“ (und die „kleine Frau“) bereit sind, weiter zu kreieren, entsteht etwas jenseits des big business. Machen Sie auch mit! Weg mit der Zukunftsangst! Das hätte auch Seneca bestimmt unterzeichnet.

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