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Das neue Opferbewusstsein

Hilfe! Ich werde – schon wieder – übers Opfersein schreiben. Ich bin wohl Opfer dieses Themas geworden. Nur. ein Problem: Momentan finde ich keine Täter, dessen Opfer ein Opfer sein kann!

Wo sind die Täter geblieben? Alle wollen nur Opfer sein!

Präsident Putin, zum Beispiel, Landesvater einer Nation der Opfer. Er schwadroniert über die grausame Aggression Ukrainer, Transsexueller, „Diverser“, auch über die EU, die USA, Georgien und Moldau. Habe ich jemanden vergessen?

Oder nehmen Sie Präsident Xi. Nein, Sie nehmen ihn (so lautet ein uralter amer. Witz). Mr. Xi. hält sich für ein Opfer, weil er sich von bösen Menschen und Staaten unfair behandelt werde. Man bezichtigt ihn des Lügens, zum Beispiel, weil er vielleicht eine weltweite Pandemie ausgelöst hat und nicht Mann genug ist, dies einzugestehen. Unfair!

Nebenbei: Darf man noch „Mann genug“ sagen, oder klingt das heute sexistisch? Ich persönlich hätte Schwierigkeiten, Mr. Xi als „nicht Frau genug“ oder „nicht Divers genug“ zu bezeichnen. Wie wäre es mit „nicht Person genug?“ Weiß ich nicht. Bin eh kein Muttersprachler.

O je. Es wird immer schwieriger mit der Sprache. Und der arme Xi fühlt sich immer mehr in die Ecke gedrängt, will heißen: zum Opfer gemacht – weil er Taiwan nicht kassieren darf, so wie er das mit Hongkong getan hat. So mühelos war das auch.

Ein ähnliches Problem hat Herr Putin. Er ist zum Opfer, weil er nicht das mit der Ukraine machen darf, was er in Tschetschenien und Aleppo gemacht hat. Und nun ist er überzeugt, man will sein Mutterland zerstören.

Opfer Opfer überall!

Und dann, weil ich das mit dem „nicht Frau genug“ und „nicht Divers genug“ geschrieben habe, könnten manche Frauen und manchoa Diversoa (neue zeitgemäße Mehrzahl) meinen, ich mache mich über sie lustig. Will heißen: Ich mache sie zu Opfern!

Doch jetzt fällt es mir ein: Oben habe ich geschrieben, dass es keine Täter mehr gibt. Stimmt natürlich nicht. Täter sind alt, weiß und männlich. Das weiß jeder. So gesehen, könnte Mr. Xi nie ein Täter sein. Er ist nämlich Chinese – zu neudeutsch: ein POC, d.h., eine Person of Color. POCs zählen immer zu den Opfern. Der kleine Mann von Nordkorea kann von daher auch kein Täter sein.

Oder denken Sie an den Heiligen George Floyd. Möge der Herr ihn selig haben. Können Sie sich an ihn noch erinnern? Nachdem er einen Ladendiebstahl begangen hatte, wurde er von der Polizei festgesetzt. Doch er wehrte sich so heftig, dass er zu Boden geworfen und in Handschellen gelegt wurde. Aber dann folgte eine Dummheit. Der Polizist, der ihn als Täter festgesetzt hatte, wurde selbst zum Täter, weil er sein Knie aufs Genick des gefangenen Floyd so lange draufgesetzt hatte, was sehr dumm war, bis der Täter starb und zum Opfer und der Polizist zum Täter wurde! Den Rest der Story kennen Sie ohnehin.

Ja, allmählich komme ich wirklich mit den Tätern und Opfern in die Bredouille.
Auch ich könnte mich manchmal als „Opfer“ betrachten. Zum Beispiel jetzt. Ich wollte – als Journalist (was ich nur selten bin) – einem Streaming vom Beck Verlag beiwohnen. Es ging um zwei neue Bücher über das oben erwähnte Opfer Vladimir Putin. Das eine heißt „Der Fluch des Imperiums – die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte“ von Martin Schulze Wessel, das andere „Revanche – wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“ von Michael Thumann.

Beide Bücher muten sehr vielversprechend an und werden bestimmt meine Theorien über die neuen Opfer mit Fakten belegen. Deswegen wollte ich, nachdem ich vom Beck Verlag eine Einladung zur Bücherpräsentation bekommen hatte, diesem Streaming als MOP (member of the press) beiwohnen. Doch nun erfahre ich, dass dies nur dann möglich sei, wenn ich eine Rezension über diese Bücher schreibe, was ich momentan aus Zeitgründen nicht kann. Immerhin: Ob ich dabei bin oder nicht, bin gern bereit, diese neuen Titel auf dieser Seite zu erwähnen.

Dennoch denke ich: Irgendwie bin ich Opfer neuer Zwänge geworden: ein Opfer im Zeitalter der Opfer.

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