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„Nazis“ und Schulhof-Politik

Ich war zwölf Jahre alt. Das Nachbarskind wollte sich an mir rächen. Ich war nämlich zugegen, als er seinen Hund, einen Welpen, ziemlich heftig verdroschen hat, weil das Tier sein belegtes Brötchen gefressen hat. Das Tier hat elend gewinselt, und ich habe dem Jungen gesagt, er soll damit aufhören. Diese Rüge hat er mir übelgenommen, und prompt hat er die Freundschaft gekündigt. Kinder bezeichnen sich als „Freunde“, auch wenn sie es nicht sind.

So der Hintergrund. Bald hatte sich das Nachbarkind mit einem anderen Kind „befreundet“. Dieser war älter und größer als ich.

Einmal bin ich auf dem Heimweg den Zweien begegnet. Der Große rempelt mich an. Und dann passiert es.

„He! Warum hast du mich angerempelt?“ sagt er.

„Ich? Ich hab dich nicht angerempelt. Du mich.“

„Lügner! Du hast mich angerempelt.“

Nun war mir klar. Er will Ärger. Er ist aber größer und stärker als ich. Erster Impuls: Ich gehe einfach weiter. Fehlanzeige. Er folgt mir und tritt mich in den Hintern. Ich gehe trotzdem weiter. Wieder das gleiche. Und wieder einmal.

Dann wird’s mir zu viel. Ich erreiche mein Limit. Er hebt das Bein, um mich nochmals zu treten. Stracks packe ich ihn ans Bein, ziehe jäh nach oben. Er dreht sich in der Luft wie eine Windmühle und fällt prompt auf die Nase. Ich bin zufrieden, doch ich mach mich schleunigst aus dem Staub, auch wenn er noch da liegt. Ich denke: Er könnte wieder aufstehen. Derweil hole ich meinen Bruder, der älter und stärker ist als ich und der andere.

Wenn wir ihn einholen, hat er sich wieder aufgerafft. Sogleich packt ihn mein Bruder am Kragen und droht ihm Schläge, wenn er ja wieder wagen solle, seinen kleinen Bruder zu ärgern. Brav nickt der Rüpel. Und siehe da. Ab dann macht er stets um mich einen Bogen.

An diese Geschichte habe ich neulich gedacht, nachdem ich ein Interview mit dem russischen General Surowikin gehört habe.

Surowikin ist, falls Ihnen der Name nicht geläufig ist, der Raufbold, der in Aleppo und – wenn ich mich nicht täusche – in Afghanistan für Grausamkeit und Verwüstung gesorgt hat. Er soll jetzt das Los der russischen Armee bei der sog. „militärischen Spezialoperation“ zum Positiven umpolen.

In jedem zweiten Satz, den der General sprach, ging es um die „Nazis“, die in der Ukraine bekämpft werden. Putin spricht seit Anfang des Krieges ähnlich.

Der Grund für diese Rhetorik ist offensichtlich: Der Geist eines anderen Zeitalters, als man gegen echte Nazis gekämpft hatte, sollte – zumindest in der Fantasie – wieder ins Leben gerufen werden, um den jetzigen sinnlosen Krieg zu rechtfertigen. Mit anderen Worten: Man tut so, als gäbe es einen rationalen Grund für diesen Krieg.

Denn was bedeutet „Nazi“ in diesem Zusammenhang außer „Feind“. In diesem Fall jedoch wird das Opfer zum Täter verwandelt in der Hoffnung, man wird vergessen, wer der wahre Aggressor ist.

Und so komme ich auf den Jungen zurück, der behauptet hat, ich rempele ihn an, wenn es in Wirklichkeit umgekehrt war.

Kann es sein, dass das, was momentan in der Ukraine abspielt, Schulhof-Politik ist? Wird der Raufbold auf die Nase fallen? Man kann’s nur hoffen. In diesem Schulhof werden aber erst abertausende Menschen sterben oder vor der Ruine ihres Lebens stehen müssen. Und all dies, weil ein Junge auf seinen Hund, der ein Brötchen gefressen hat, gedroschen hat und dann gemaßregelt wurde.

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