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Augen zu und los (Die Gliose-Blues)

Ich werde mich heute kurzhalten. Mein Arzt besteht darauf. Will heißen: mein Augenarzt. Vielleicht erinnern Sie sich. Vor zwei Wochen habe ich angekündigt, dass ich auf Geheimmission gehe. Ist geschehen. Und nun bin ich zurück.

Was für eine Geheimmission?

In meinem Fall führte sie letzte Woche in eine Augenklinik, wo ich mir eine ziemlich ekelhafte Operation unterziehen ließ. Sie heißt „Vitrektomie“. Damit wird gemeint, dass die Flüssigkeit im Glaskörper (ja, im Glaskörper ist eine durchsichtige Flüssigkeit) entfernt wird, damit sich der Operateur (bzw. die Operateurin) einfacher an die Netzhaut herankommen kann. In meinem Fall war dies notwendig, weil sich mir auf der Netzhaut (lateinisch „retina“) eine „Gliose“ formiert hat.

Mit Sicherheit wissen Sie nicht, was eine Gliose ist. Das erfährt man erst, wenn man eine hat. Es handelt sich um ein Häutchen, das sich aus irgendeinem Grund auf der Netzhaut zu wachsen anfängt. Auf den CT-Bildern meiner Netzhaut, wird etwas sichtbar, das wie ein Vulkan aussieht. Dieser Vulkan schwillt immer mehr an, bis man kaum mehr aus dem Auge sehen kann.

Deshalb habe ich während der letzten Jahre die Welt wie durch krumme Wellen gesehen. Als Lesegerät fiel das linke Auge selbstverständlich aus.

Vor der OP hat man mich in einen Dämmerschlaf versetzt – ein interessantes Erlebnis. Man ist halb da und halb nicht da. Ich bilde mir ein, ich habe den Augenblick erlebt, als man mir mit einer Pinzette das störende Häutchen rausgepickt hat. Ich bilde mir weiterhin ein, dass ich etwas in diesem Sinn kommentiert habe und dass der Operateur mir gesagt hat, ich solle lieber den Mund halten, was für mich ohnehin schwierig ist.

Wie dem auch sei. Die OP ist inzwischen vorbei. Wo die Glaskörperflüssigkeit ausgesaugt wurde, hat man dem Auge als Platzhalter Gas reingepumpt. Sie müssen sich vorstellen: Der Augapfel war nach der OP halb mit Flüssigkeit halb mit Gas gefüllt. Anfänglich hatte ich eine Empfindung, als würde ich durch ein trübes Aquarium schauen. Die gute Nachricht: Das Gas wird peu à peu resorbiert (Ärztesprache) und das Auge füllt sich dann mit frischer Flüssigkeit wieder. Bis es so weit ist, nimmt man eine Trennlinie zwischen Flüssigkeit und Gas wahr. Unterhalb der Linie glotzt man durch das trübe Aquarium, oberhalb ersieht man – täglich – immer mehr Licht, wie man es üblicherweise kennt. Am Schluss, so wurde mir erklärt, verschwindet das Aquarium ganz, und die Sehkraft wird wieder hergestellt. Das dauert aber, und man darf sich während einer gewissen Zeit durch Lesen, tragen etc. nicht anstrengen.

Und darum geht es in diesem kurzen postoperativen Bericht: Ich gebe mir Mühe, mein Auge nicht zu sehr zu überstrapazieren.

Sie merken es natürlich nicht, aber ich schreibe diesen Text mit zugeschlossenen Augen. Das „Blindschreiben“ habe ich in der 7. Klasse in New York gelernt. Es hat mir mein ganzes Leben gedient. Mit Sicherheit steht das Schreibmaschinenschreiben nicht mehr auf dem Lehrplan weder in den USA noch sonst wo.

Da ich die nächste Zeit nur sehr wenig lesen darf – auch keine Zeitungen, hat mir meine Frau Hörbücher zur Verfügung gestellt. Ja, ich höre Bücher; ich lese sie nicht. Früher haben beinahe alle Menschen ihre Bücher nur gehört. Denn die meisten Menschen waren ohnehin Analphabeten. War einfach so.

Das hat aber Konsequenzen. Wenn man einen Text nur hört, lebt man quasi – was die Sprache betrifft – in einer Klangwelt. Viele Wissenschaftler sind der Meinung, dass das logische Denken erst nach dem Lesenlernen entstanden ist.

Weil Menschen in einer schriftlosen Kultur nichts schriftlich festlegen können, wird die Vergangenheit ihrer Kultur allein durch das Gedächtnis festgehalten. Das Gedächtnis ist aber, wie man weiß, ein unzuverlässiger Kumpel. Folglich seien schriftlose Kulturen quasi mythologische Kulturen.

Nebenbei: Das englische Wort für „lesen“, also „read“, ist mit „reden“ verwandt. Da erkennt man eindeutig einen Hinweis auf die einstige mündliche Tradition. Der Name des heiligen Buchs des Islam, „Quran“, wird von einer Vokabel abgeleitet, das „ausrufen“ bedeutet. Das frühe Publikum dieses Textes hat ihn mit Sicherheit nicht gelesen, sondern lediglich gehört.

Na ja. Nur ein paar Gedanken zu meinem momentanen Zustand. Wie gesagt: Ich habe diesen Text zumeist mit zugeschlossenen Augen geschrieben. Sie werden ihn aber – so nehme ich an – mit offenen Augen lesen.

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