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Die Fahrradwege von Mariupol

Während ich diesen Text schreibe, flattert ein frischer Wind über die Stadt Mariupol. Er kommt aus dem Südwesten mit 29 Sachen an. Die Temperatur beträgt 6°C. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei 75%. Ach ja: Es ist eine Stunde später in Mariupol als in Deutschland bzw. Zentral- und Westeuropa.

Keine Sorge. Heute schreibe ich nicht über Putins totalen Krieg oder dass Mariupol heute ein Aussehen hat wie Aleppo und Grosny nach der Bearbeitung bzw. „Befreiung“ durch den russischen Diktator. Hier beschwören wir die Erinnerung an eine einst liebliche Stadt an der Küste des Asowschen Meers.

Ein kleiner Infokasten im WehWehWeh (man googelt „Mariupol“) gibt an, dass ein Zimmer in einem Dreisternhotel in dieser Stadt durchschnittlich 42 Euro pro Nacht kostet. Gar kein schlechter Preis. Will heißen: 10 Tage in Mariupol würden ca. 420 Euro kosten. Man denkt sogleich: Wäre schön hier Urlaub zu machen…Spaziergänge am Strand, Flanieren durch die Hauptstraße usw.

Ach ja! Noch etwas habe ich vergessen zu erwähnen: Am 23. Februar 2022 war das große Thema der Stadtratsitzung in Mariupol Pläne fürs neue Fahrradwegnetz in der Stadt.

Leider kann man heute nicht mehr sagen, wann diese Fahrradwege zwecks einer nachhaltigen, grünen Zukunft realisiert werden können. Noch wissen wir unter welcher Herrschaft, dies auch geschehen könnte. Denn Mariupol hat das Pech, ein geografischer Brennpunkt in einem Eroberungskrieg zu sein. Die Stadt befindet sich nämlich im sog. Donesk-Oblast. „Oblast“ bedeutet auf Russisch „Kreis“ oder „Distrikt“. Und „Donesk“ ist, wie jeder mittlerweile weiß, ein Teil des umstrittenen Gebiets der Ukraine, das Russland für sich beansprucht.

Was Sie nicht wissen: In dieser Gegend lebten früher weder Ukrainer noch Russen, sondern sog. „pontische“ Griechen. Ja Griechen, und zwar seit der Antike. Tatsache ist: bis in die Neuzeit und auch noch heute (wenn sie nicht alle mittlerweile durch den totalen Krieg abgemurkst wurden) waren Griechen in Mariupol ansässig – freilich als Minderheit.

In der Antike hieß diese Gegend „Pontos“. Der römische Dichter Ovid, seinerzeit Opfer des Zorns des Augustus Cäsars auf Grund eines skandalösen Gedichts, wurde nach Pontos ins Exil verbannt. Er hielt sich allerdings auf der anderen Seite des Schwarzen Meers auf – in einer Stadt damals „Tomis“ heute „Constanta“ (Rumänien) genannt. Nicht nur griechische Kolonisten waren in Pontos zuhause, sondern ebenfalls Skyther. Später fiel Pontos in die Hände der Kosaken und der Slawen. So ist es mit dem Lauf der Geschichte. Immer die Zugereisten…

Der Name „Mariupol“ ist aber griechischen Ursprungs. „Marioupole“, sagten die Griechen: die Betonung auf dem „ou“. Die neuzeitliche Stadt ist kaum mehr als zweihundert Jahre alt. Aber in dieser kurzen Zeit haben sowohl Kosaken wie auch Deutsche und Russen gewütet und zerstört. Ein Wunder, dass überhaupt Häuser aus früheren Zeiten noch stehen.

Ich frage mich, warum ich all dies jetzt schreibe. Vielleicht deshalb, weil ich mich wie viele in Europa – vor allem in Mittel- und Osteuropa – in einem Schockzustand befinde, wenn ich an Mariupol denke. Wir schauen momentan alle tatenlos zu, während Menschen einer verwandten Kultur (immer leichter mitzufühlen, wenn eine Kultur verwandt ist – ist leider so, hat nix mit Rassismus zu tun) aufgemischt wird. Wir lesen täglich über Kriegsverbrechen und Kriegsverbrecher, und das zermürbt.

Klar. Jeder weiß, dass das erste Opfer eines jeden Krieges die Wahrheit ist. Bewusst lügen gehört zur Werkzeugkiste der militärischen Aggression.

Im Infozeitalter läuft dieser uralte Spielplan allerdings etwas anders ab als früher. In den schlechten alten Zeiten gab es weder Instagram, Telegram, Twitter, Facebook etc. Ebenso fehlten die „Deep Fakes“, die erlauben, dass man die Identität eines Gegners meisterhaft fälschen kann, so dass es beinahe unmöglich ist, Wahrheit von Lüge zu trennen.

Ja, dies ist eine Glosse, die ich im Schockzustand schreibe. Fest steht allenfalls: Dieser Krieg geht irgendwann zu Ende. Falls die Situation noch schlimmer werden soll – Stichwort „Atombomben“ – dann gilt ohnehin die Devise: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. Dennoch: Wenn der Krieg vorbei ist, werden auch die Lügen in Schutt und Asche liegen, so dass die ganze Wahrheit endlich sichtbar wird – für alle.

Was mich am meisten sorgt, ist der Gedanke, dass am Tag vor der Zerstörung dieser lieblichen Stadt Mariupol, deren Stadtrat noch immer über den Bau von nachhaltigen Fahrradwegen beriet. Tja, man kann nie in die Zukunft schauen.

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