Manchmal freut man sich, wenn ein gewisser Kandidat bzw. eine gewisse Kandidatin, den ersten Preis erhält. Man denkt: Ja, er (oder sie) hat Talent und hat die verliehene Auszeichnung verdient.
Das, z.B., ist meine Meinung bzgl. der Wahl des dt. Jugendwortes fürs Jahr 2021: „cringe“. Diese knapp zu sprechende Vokabel wird im Sinne von „peinlich“ benutzt. Ein verdienter Sieg! Hut ab!
Nur eins stört mich: Das Wort ist – wie so oft im oben genannten jährlichen Wettbewerb – keine deutsche Vokabel. Weshalb ich mich manchmal frage: Finden deutsche Jugendliche (bzw. das Jury) keine Wörter in der Muttersprache, die als Alltagsbegleiter durch die Peinlichkeiten, Schmerzen und Freuden des Lebens dienen könnten?
Das Wort „Cringe“ ist mir als englischer (bzw. amer.) Muttersprachler selbstverständlich seit meiner Kindheit bekannt. Früher wurde es allerdings anders verwendet als heute. Zufällig besitze ich noch mein Webster’s Dictionary aus den 1950er Jahren. Damals wurde „cringe“ in zwei verschiedenen Sinnen benutzt: 1.) sich aus Angst zusammenzucken. Beispiel: „He saw the monster and cringed. D.h.: Bibberbibberbibber.“ und 2.) sich arschkriecherisch benehmen. Beispiel: „When he saw the rock star, he cringed as if ready to lick his boots. Seufz! Du bist mein Held!” Notabene: “Cringe” wurde damals nur als Verb verwendet.
Von diesen zwei Bedeutungen ist heute wenig übriggeblieben – zumindest nicht in der dt. – aber auch nicht in der amer. – Jugendsprache.
Heute wird „cringe“ im Sinne von „Oh wie peinlich!“ benutzt, also nicht als Verb, eher als Ausruf oder manchmal als Adjektiv. Sie sehen etwas oder jemanden in einer peinlichen Situation, und Sie zucken zusammen (you cringe), als wollten Sie Ihr Mitgefühl (oder Ihr Hohn) zum Ausdruck bringen.
Dieser Gebrauch des Wortes ist, wie gesagt, neu und in den englischsprachigen Foren bzw. in den „social media“ bekannt geworden. Wenn Millionen von TikTok-Fans das Wort „cringe“ hören, überspringt es geschwind die Sprachgrenze.
Ich finde das Wort geradezu perfekt, um das Empfinden der Peinlichkeit auszudrücken. „Krindsch“. Lauter Konsonanten umzingeln ein einsames kurzes „i“. Das „kr“ klingt wie wenn man ein Stück Papier zusammenknautscht. Und dann folgt „ndsch“, und hört sich an, als würde man mit dem bereits zusammengeknautschten Papierball eine dichte Papierpille machen.
Wie gesagt, ich kenne das Wort von früher nur als Verb. Neulich nahm ich – Corona sei Dank – an einer Zoomkonferenz in den USA teil. Alle Mitwirkende – auch ich - waren Amerikaner. Unser Thema war die Schreibkunst. Eine Autorin hat von einer peinlichen Situation erzählt und betonte, dieses Ereignis sei „cringeworthy“, also „cringe-würdig“. Als Muttersprachler habe ich sofort verstanden, worauf sie hinauswollte – obwohl mir der Ausdruck neu war.
Inzwischen erfahre ich, dass „cringeworthy“ ein weitverbreiteter Begriff ist.
„Cringe“ sagt man übrigens meistens, wenn man die Peinlichkeit eines anderen und nicht die eigene peinliche Handlung kommentieren will. Für diese Situation gibt es übrigens auch einen deutschen Begriff: „Fremdschämen“.
Schönes Wort, nicht wahr?
Dazu ist „Fremdschämen“ – kaum zu glauben – ein neues Wort. Ich habe in meinem sechsbändigen Duden von 1978 danach gesucht. Damals gab es noch kein „Fremdschämen“. Was hat man bloß gesagt?
Doch nun frage ich mich, wieso „fremdschämen“ nicht so populär ist wie „cringe“? Zugegeben, man kann es nicht als Ausruf verwenden, und es ist bei weitem nicht so kompakt und klingt nicht so, wie wenn man ein Stück Papier zusammenknautscht. Dafür ist es aber ein hübsches Wort – und elegant auf eine Weise, die „cringe“ niemals werden wird.
Und jetzt habe ich alles zu diesem Thema gesagt, was mir einfällt.
Add new comment