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Angriff auf hohem Sie (bzw. rettet das Sie)

Fangfrage: Wann hat das 21. Jahrhundert begonnen? Manche werden sagen: „Ahh! Er spielt mit uns, der Schlawiner. Das neue Jahrhundert (bzw. Jahrtausend) begann am 1. Jan. 2001. Denn das Jahr 2000 war de facto das letzte Jahr des 20. Jh.! Ha!“ Bravo! Wer so antwortet, soll Mathematiker oder Chemiker werden.

„Nein“, sagt ein anderer. „Das neue Jahrhundert (bzw. Jahrtausend) begann mit ‚nein ellewwen‘. Das war eine Art Fanal.“

Guter Gedanke. Ich bin aber anderer Meinung. ‚Nein ellewwen‘ war bisniss as jusjual. Die üblichen Fanatiker, der übliche Zerstörungswut.

Okay. Lange Rede, kurze Haare: Das 21. Jahrhundert – um es auf den Punkt zu bringen – begann Ende des Jahres 2019. Der Anlass: Corona.

Fakt ist: Neue Jahrhunderte haben noch nie termingerecht angefangen. Sie fangen immer als erschütternde Schnittstelle (viel viel größer als 9/11) an. Und zack! Daraufhin folgt stets ein neuer Zeitgeist.

Beispiel 20. Jahrhundert. Erst der 1. Weltkrieg (damals noch „der große Krieg“ genannt) hat der neue Zeitgeist aus der Flasche entfliehen lassen.

Oder das 19. Jahrhundert. Erst nachdem Napoleon Europa aufgemischt hat, befand man sich im neuen, fortschrittlichen 19. Jahrhundert.

Willkommen also im neuen Jahrhundert! Das alte, ist bereits – wie man im heutigen Deutsch sagt – „Geschichte“.

Vieles, was Ihnen lieb und teuer war, wird immer schneller ohne Belang. Zum Beispiel: die deutsche Sprache. Und darum geht es hier, liebe Mitneuzeitler (verzeihen Sie mir das Fehlen des Gendersternchen).

Ja, die deutsche Sprache ist heute unser Thema – zumindest ein Aspekt davon. Nein hier geht es nicht um die Entgenderung der dt. Sprache. Darüber zu schwadronieren, tun mittlerweile viele ewige GestrigInnen. Spannend wird dieses Phänomen ohnehin erst, wenn die neue Literatur vom Genderismus vereinnahmt wird.

Heute möchte ich einen ganz anderen Sprachvorgang betrauern: das „Sie“.
Über den Verlust dieser Vokabel habe ich schon mal geschrieben. Einmal darüber, wie schön es ist, ganz bewusst zwischen „du“ und „Sie“ wählen zu dürfen…quasi als Schutzmechanismus. Ein anderes Mal ging es um den Gebrauch (bzw. Mangel an Gebrauch) vom Sie in den „social media“. Manche Giganten siezen noch, andere gar nicht mehr.

Doch nun habe ich ein noch gravierenderes Beispiel des Verlustes dieses wichtigen Fürworts. Neulich habe ich eine Zahnarztrechnung von der Firma BFS Health Finance erhalten. Alles ganz normal: „Sehr geehrter Herr… usw.“ Da ich aber kurz vor einer Reise stand, wollte ich die Firma telefonisch darum bitten, die Zahlungsfrist zu verlängern, weil ich noch keine Auszahlung von meiner Zusatzzahnversicherung erhalten hatte. So etwas habe ich des Öfteren gemacht. Doch diesmal kam ich telefonisch nicht durch. Die Roboterstimme am Telefon hat mir empfohlen, die Angelegenheit online zu erledigen bei „mein-BHS“ oder wie immer es hieß.

Also bin ich dieser Bitte gefolgt. Und siehe da! Plötzlich war ich im „Duzland“: „deine Rechnung“, „deine Überweisung“, „deine Ratenzahlungen“ etc. Meine DuzfreundInnen – wollten kassieren. Vielleicht sind Sie anders. Mich haben diese falschen Freunde irritiert. Bei „deine Kontaktmöglichkeiten“ habe ich mich darüber beschwert. Eine Antwort bekam ich nie.

By the way: Im bisherigen Schriftverkehr bedient sich BFS noch immer der alten Gepflogenheiten. Vielleicht denkt man: Wer Print liest, ist alt, will gesiezt werden; wer online bezahlt, ist jung und duzwürdig. Aber Achtung: Eines Tages wird es bye bye Sie heißen.

Ich schreibe diesen Text heute aber aus einem anderen Anlass. Heute fand ich im Briefkasten ein Werbungsblättchen. Eine neue Ärztepraxis mit drei Filialen wollte sich vorstellen. „Hallo, wir sind neu…“, heißt es. Und dann: „Buche deinen Termin einfach online…“ Und: „Erlebe die erste Arztpraxis, die du lieben wirst.“

Im neuen Jahrhundert post Coronam werden wir uns alle lieben…und uns duzen.

Sagen Sie der deutschen Sprache einen leisen Servus.

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