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Gedrucktes übers Lügen

Gestern habe ich gelogen. Das ist die Wahrheit. Freund M. meint, die Sache sei halb so schlimm, weil ich nur zur Hälfte gelogen habe.

Dazu fällt mir der Grieche Epimenides ein. Er soll vor ca. 2600 Jahren gelebt haben und Kreter gewesen sein. Es wird behauptet, er habe mal gesagt: „Alle Kreter sind Lügner.“ Natürlich eine skurrile Aussage. Denn, wenn einer selbst aus Kreta stammt und noch dazu beteuert, alle Kreter seien Lügner, so muss man sich notgedrungen fragen, ob so einer lügt oder die Wahrheit sagt.

Ich persönlich würde nie behaupten, dass alle Kreter Lügner sind. Ich war nämlich zweimal auf Kreta und habe dort eine Menge Menschen kennengelernt, die meiner Meinung nach sehr ehrlich waren.

Viele namhafte Philosophen – inklusiv Bertrand Russell – haben sich mit obigem „Epimenides-Paradoxon“ befasst. Sicherlich ist dieses Paradoxon auch nicht ganz ohne im Info-Zeitalter. Siehe „Fakenews“.

Aber zurück zu meiner Lüge. Und damit meine ich meine wahre Lüge. Gestern saß ich in der Münchener S-Bahn und war unterwegs zum Flötenunterricht. Ja so vielfältige Interessen kann ein Sprachbloggeur haben!

Normalerweise fahre ich mit meiner Vespa zum Unterricht. Da mir aber leider mein Portemonnaie gestohlen wurde (siehe meine vorige Glosse über Diebe), bin ich momentan ohne Führerschein. Das heißt: Auch wenn ich offiziell Führerscheinbesitzer bin, habe ich keinen. Würde mich ein Polizist fragen, „Haben Sie einen Führerschein“, wäre mein „Ja“ als Antwort sowohl eine Lüge wie auch die Wahrheit.

Aber lange Finger, kurzes Leben: Um in der S-Bahn die Zeit zu vertreiben, fotografiere ich zu Coronazeit sehr gern maskierte Menschen. Ganz heimlich mache ich das…husch husch wie ein Taschendieb. Ich fotografiere maskierte Menschen gern, weil Gesichter ohne Mundpartie oft – zumindest meiner Meinung nach – eine besondere Schönheit aufweisen. Dies hat mit der Schönheit der Seele zu tun, die sich in ihrer ganzen Reinheit, so denke ich, in den Augen widerspiegelt wird – außer ein Mensch ist ein wahres Ekel.

In diesem Fall war mein „Opfer“ ein junger schwarzer Mensch, der quergegenüber von mir saß und schöne Augen hatte. Upps! Darf ich das Wort „schwarz“ schreiben? Klingt das diskriminierend oder rassistisch? Ich glaube nicht. Es wäre ohnehin eine Lüge, wenn ich ihn anders beschreiben würde.

Außerdem war er in erster Linie Deutscher – und mit Sicherheit deutscher als ich. Ich spreche diese Sprache nämlich mit Akzent. Er hat normales Hochdeutsch gesprochen und besitzt bestimmt einen dt. Pass. Ich nicht. Auf die Frage, „Was ist deutsch?“, lass ich mich nicht ein.

Aber zum Thema: Der junge Mann hat mich beim Fotografieren erwischt. Das kommt sehr selten vor. Denn ich bin so flink wie der Taschendieb, der mir mein Portemonnaie geklaut hat (siehe vorige Glosse).

„Haben Sie mich gerade fotografiert?“ fragte er.

„Nein“, log ich.

„Mir kam es aber so vor“, antwortete er…sehr hartnäckig.

„Hab ich aber nicht“, log ich weiter.

Dann war Ruhe, Er war bestimmt verärgert und hat mir mit Sicherheit nicht geglaubt. Und ich? Ich habe mich sogleich geschämt, dass ich ihn angelogen habe. Also wandte ich mich zu ihm und sagte: „Wissen Sie, ich fotografiere maskierte Menschen in der S-Bahn in der Tat gern und oft. Auch Sie wollte ich fotografieren, habe ich dann aber doch nicht.“

Er schaute mich fortwährend skeptisch an.

Und ich? Mir war es gelungen, eine Lüge in eine Halblüge zu verwandeln. Ist eine halbe Lüge besser als eine ganze Lüge? Wahrscheinlich nicht. Freund M. ist anderer Meinung.

Vielleicht könnte man meinen Wiedergutmachungsversuch auf die Ebene einer „Notlüge“ (wessen Not?) herunterstufen. Auf Englisch heißt dies „white lie“.

Habe ich also einem schwarzen Menschen eine weiße Lüge aufgetischt? Ja die Sache ist wahrhaftig kompliziert.

Umso mehr, weil das Wort „lügen“ und das Wort „liegen“ sich sehr ähneln. Im Englischen ist die Gleichartigkeit dieser Vokabeln noch prägnanter: „lie“ und „lie“.

Irgendwie steckt eine ganze Wahrheit in dieser Story übers Lügen. Das behaupte ich, obwohl ich Nichtkreter bin.

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