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Auch Querdenker haben ein Verfallsdatum

Traurig aber wahr. Manche Wörter sind mit einem Verfallsdatum versehen. Wann dies passieren soll, steht nirgends auf der Verpackung. Über dieses Thema hat mein Blogista-Kollege Gorg (s. seine Seite „Lustwort“) neulich referiert. Er hat eine beeindruckende Liste der Verflossenen zusammengestellt.

Darüber hinaus besitze ich ein „Kleines Lexikon untergegangener Wörter vom Sprachforscher Nabil Osman (Was!? Schon vor etwa 50 Jahren herausgegeben?!).

Osman ist ein veritabler Impresario der exotischen Vokabeln. Kennen Sie, z.B., „Angelöbnis“ (heute: „Gelöbnis“), „Anerkenntnis“ („Anerkennung“), „Harnprophet“ („Arzt“ – Ein Scherzwort?), „Kläre“ („Klarheit“, hübsch find ich), „kleinfügig“ („geringfügig“, würde gerne verwenden), „niederträchtig“ (nein, Sie kennen das Wort nicht. Es heißt „von einer kleinen Höhe“), „säcken“ („ertränken“), „Unbelieben“ („Unzufriedenheit“)?

Kurzum: Sie finden in diesem Buch eine Kunterbuntheit vor, die von „abergläubig“ (nein, heute sagt man „abergläubisch“) bis „zwier“ (also „zweimal“. Mit Sicherheit kennen Sie Luthers „In der Woche zwier, schaden weder ihm noch ihr“. Notabene: „zwier“ wird als Plural verstanden) erstreckt.

Doch zurück zum Verfallsdatum von Wörtern. Manchmal verschwindet ein Wort nicht als Form – dies verfällt nicht – , sondern lediglich als Sinnträger.

Denken Sie, liebe Deutsche, an die Vokabel „Führer“, einst eine handelsübliche Bezeichnung für jemanden, der…ja…führt! Dann tauchte der Braunauer (passender Name) auf. Heute käme niemand (bzw., eine niedrigfügige Minderheit) auf die Idee, ein Staatsoberhaupt in Deutschland als „Führer“ (bzw. „Führerin“) zu bezeichnen. „Fremdenführer“, „Marktführer“ und „Geschäftsführer“ gehen noch allemal.

Oder „Endlösung“. Können heutige Probleme noch eine „Endlösung“ haben? Nein, natürlich nicht. Sie finden nur noch „Lösungen“ oder vielleicht „schlüssige Lösungen“. Auch eine „endgültige Lösung“ gälte m.E. als Grenzfall heute.

Fassen wir zusammen: Kaum wird ein Wort als ideologischer Dienstleister instrumentalisiert und peng! Ende der Vorstellung.

Gleiches (wenn lange nicht so abgrundtief degoutant wie bei den obigen Vokabeln) ist dem englischen „gay“, das einst „heiter“ oder „lebensfroh“ bedeutete, passiert. Im alten Sinn kann man diese altgediegene Vokabel auf keinen Fall verwenden.

Nebenbei: Französisch „gai“, das auch früher „lebensfroh“ bedeutete, gibt es nicht mehr. Heute ist die „Gaité Parisienne“ allein eine Bezeichnung für die Pariser Schwulenszene.

Oder englisch „punk“. Früher „Halbstarker“. Seit dem 1980er Jahren ist es ein terminus technicus aus der Musikbranche geworden und erschwert maßgeblich den Gebrauch des Wortes im originalen Sinn.

Und nun kommen wir endlich zu den „Querdenkern“. Über diese Bewegung habe ich auf dieser Seite erst vor kurzem geschrieben. Heute befassen wir uns nur mit dem Phänomen des Sprachwandels. Genauer gesagt: Sie, liebe Leser, sind unmittelbare Augenzeugen der Geburt eines neuen ideologischen Begriffs.

Früher war ein „Querdenker“ einer, der außerhalb von gängigen Lösungsansätzen (nie „Endlösungsansätzen“) dachte. „To think outside the box“, sagt man auf Englisch. Auch ein nettes Bild.

Das Wort wird wohl nie wieder diesen Sinn tragen. Denn, liebe Augenzeugen, das Verfallsdatum dieses Begriffs wurde erreicht, und zwar unwiderruflich. Ab jetzt bezieht sich dieser Begriff allein auf „Coronamaßnahmengegner“. Die Chancen stehen gut, dass auch jenseits dieser „Coronamaßnahmengegnerbewegung“ der Begriff künftig manche neuen Aufgaben finden wird. Müssen wir erst abwarten.

Sagen Sie also ruhig „lebe wohl“ zum alten „Querdenker“. Der neue ist schon da.

Hoppla! Es ist kurz vor Sylvester! Will ich das Jahr auf so einer düsteren Note beenden? Weit gefehlt! Ich bleibe wie immer ein kurzfristiger Pessimist, dafür aber ein langfristiger Optimist. Der Unterschied zwischen diesen zwei Einstellungen ist keinesfalls kleinfügig.

Wie dem auch sei. Seien Sie, liebe Leser (damit meine ich alle Geschlechtsrichtungen) guter Dinge. Auch Dummheiten haben ein Verfallsdatum. Schade, dass manchmal schöne Wörter mit ihnen zugrunde gehen müssen.

Empfehlung für 2021: Vertiefen Sie sich in der Geschichte. Ist immer von Nutzen.

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