Gestern wollte ich vom Geldautomat eine bescheidene Summe abheben und wartete, während ein Mensch lange vor dieser Maschine stand und mühselig die Tasten des Geldcomputers betätigte. Das Warten nahm kein Ende, der andere tippte unentwegt, als würde er Emails schreiben. Ich beobachtete, wie er mehrmals seine Bankkarte aus dem Schlitz herauszog und wieder einsteckte. Er war eindeutig überfordert. Dennoch habe ich in keinem Augenblick die Geduld verloren. Vielmehr sann ich über Hernando Cortes nach. Endlich hatte ich verstanden, wie der berühmte spanische Haudegen es mit einem Aufgebot von zweihundert Soldaten vermochte, das Millionenvolk der Azteken zu Fall zu bringen.
Genauer gesagt, ich habe eine Theorie des französisch-bulgarischen Kulturhistorikers Tzvetan Todorov nachvollziehen können.
Früher hat man gemutmaßt, dass Cortes dieses Wunder nur dank einiger glücklichen Zufälle vollbracht habe: 1.) Die Azteken hatten Angst vor dem ihnen unbekannten Schießpulver, 2.) sie hielten die Pferde der Spanier für Drachen oder Ähnliches und 3.) sie glaubten ernsthaft daran, dass Cortes die Inkarnation des aztekischen Gottes Quetzlcoatl sei.
Ich möchte die Gültigkeit obiger Theorien keineswegs in Abrede stellen. Nur: Todorov bringt eine noch triftigere Erklärung, die auch die obigen heller leuchten lässt. Er behauptet, dass die Azteken Cortes zum Opfer fielen, weil sie des Lesens unkundig waren.
Jawohl, aufgrund des Lesens, einer Tätigkeit, die uns längst zum Automatismus geworden ist. So selbstverständlich ist uns das Lesen, dass wir leicht vergessen, was diese Fähigkeit im Menschenhirn bewirkt: Es programmiert unsere Synapsen nämlich für das logische Denken. Nein, kein Witz.
Bedenken Sie, was im Kopf vorgeht, wenn Sie lesen: Sie bringen gewisse Zeichen mit gewissen Lauten in Zusammenhang und kombinieren sie, um daraus sinnvolle Wörter zu formen. Das Lesen ist also ein Code, der das Papier zum Sprechen bringt. So hat es übrigens ein Azteke kurz nach der spanischen Eroberung ausgedrückt. Man ist stets dabei, abstrakte Symbole buchstäblich "auf die Reihe“ zu bringen. Das Hirn ist also ständig mit dem Organisieren beschäftigt.
Die buchstabenkundigen Spanier beherrschten also eine Denkweise, die den Azteken völlig fremd war. Was ging hingegen im Kopf der Mesoamerikaner vor? Sie verfügten nicht über eine logische, sondern eine mythologische Denkweise. Mit dem Ergebnis: Sie haben die Gefahr der Spanier falsch eingeschätzt. Als König Montezuma Cortes Goldgeschenke, verbunden mit der Bitte, das Land zu verlassen, zukommen ließ, meinte der Herrscher, er habe Cortes damit eine klare Botschaft übermittelt – was wohl zugetroffen hätte, wenn Cortes ein mythologisch denkender Mensch gewesen wäre. Doch kaum wurde Cortes das blinzelnde Gold vor Augen geführt, wollte er noch mehr davon haben. Schließlich kam Cortes auf die logische Idee, sich mit den Tlaxcalteken, Erzfeinden der Azteken, zu verbünden. Bald kämpften nicht 200 Spanier gegen eine aztekische Übermacht, sondern Tausende von Allierten. Die Vorstellung, eine Allianz einzugehen, wäre damals für die Azteken völlig fremd gewesen.
Ich will hier nicht zu sehr ins Detail gehen. Die Geschichte ist ohnehin sehr kompliziert. Ich möchte nur auf die Bedeutung des Lesens bzw. der Schriftkultur für das Gedeihen einer Hochkultur hinweisen. Übrigens: Als Cortes in Mexiko landete, waren die Azteken gerade dabei eine eigene Bilderschrift zu entwickeln. Sie befanden sich allerdings erst am Anfang des Prozesses.
Ich bin sicher, dass der Mensch, der vor mir den Geldautomat so lange beansprucht hat, des Lesens mächtig war. Seine Kenntnisse waren für die Aufgabe aber vielleicht ungenügend.
Über dieses Thema hätte ich noch einiges zu erzählen. Einstweilen dürfen Sie aber eine Lesepause einlegen.
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