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Schimpfen und das Stammhirn – ein Beispiel

Wer gern fotografiert, wird folgende Situation gut nachvollziehen können.

Wir Gefangene des Corona Virus dürfen zum Glück aus Gründen der Ertüchtigung allein oder mit einem Menschen aus dem eigenen Haushalt in die frische Luft. Das bedeutet spazieren gehen, joggen, radeln usw. Zumindest in Deutschland ist es so. Und ich finde es in Ordnung. Verglichen mit den Bestimmungen in Spanien, Frankreich oder Italien klingt unsere Freiheit beinahe paradiesisch.

Also bin ich letzte Woche, da die frische, trockne Luft und die Dürresonne so verlockend waren, Fahrrad gefahren.

Da ich auch gern fotografiere, habe ich meinen Fotoapparat mitgenommen. Ich hatte vor, bei so einem herrlichen Licht Fotos in der beinahe menschenleeren Stadtmitte zu machen. Eine seltene Gelegenheit, und doch ist diese Leere irgendwie unheimlich.

Während dieses Ausflugs entdeckte ich eine mir unbekannte Straße, die in einer breiten Sackgasse mündete. So ein schönes Licht, habe ich gedacht, und mit Häusern aus der Gründerzeit! Dazu war auch weit und breit kein Mensch. Ich blieb (noch immer saß ich auf meinem Fahrrad) mitten auf der Straße stehen, was mir eine besonders günstige architektonische Perspektive versprach.

Ich holte meinen Fotoapparat aus der Tasche raus und wollte gerade mein Bild einrahmen, als ich von der linken Seite den Anlasser eines Wagens vernahm. Mir wurde sofort klar, dass ich besagten Wagen daran hindere, den Parkplatz in Rückwärtsgang zu verlassen.

Heilige Ironie! sinnierte ich. Immer das gleiche! Kaum will man fotografieren, tritt ein Hindernis auf…usw. Da ich aber – meistens – ein rücksichtsvoller Mensch bin, verschob ich mein Fahrrad, damit der Wagen den Parkplatz ungehindert verlassen könnte.

Und dann passierte es: Ein Herr, vielleicht war er etwa 55-60, öffnete unverrichteter Dinge die Beifahrersitztür, schaute mich erbost an und sagte: „Beweg deinen Arsch!“

Das hat mich sehr überrascht, denn im Grunde hatte ich „meinen Arsch“ bereits bewegt. Aber, da ich (manchmal) nicht auf den Mund gefallen bin, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen: „Drücken Sie sich nicht so vulgär aus, junger Mann.“ Ich weiß nicht, ob er überhaupt etwas von meiner Erwiderung mitgekriegt hat, denn schnell knallte er die Tür wieder zu.

Es geht aber weiter. Von hinter der Schutzscheibe zeigte er mir nun den, wie man im heutigen Deutsch sagt, „Stinkefinger“. Notabene: Der Gebrauch dieses Fingers als vulgäre Geste ist im dt. Sprachraum relativ neu. Als ich 1975 nach Deutschland kam, war sie so gut wie unbekannt. Damals klopfte man mit dem Zeigefinger auf die eigene Stirn.

Seine Reaktion hat mich nicht nur überrascht. Sie hat mich erheblich irritiert. Ohne einen Augenblick zu überlegen, erwiderte ich mit der gleichen Geste, die mir aus meiner amer. Jugend bestens bekannt ist, und fügte hinzu in meiner Muttersprache „Fuck you, you asshole“, was sehr vulgär ist. Bitte googeln.

Nun war ich neugierig, ob er jetzt aus dem Wagen steigen würde, um mich zurechtzuweisen. Tat er aber nicht. Vielleicht war er nicht so ganz sicher, ob ich wirklich so harmlos bin, wie ich nun mal aussehe. In solchen Situationen ist das Bluffen stets höchstes Gebot. Macht auch jedes schwache Tier in der Not. Beim Wegfahren (eine Dame – seine Gattin? – saß am Steuer) hat er die vorige vulgäre Geste wiederholt. Ich antwortete unmittelbar darauf mit der gleichen Geste. Allerdings diesmal warf ich mit den Fingern ein Küsschen in seine Richtung. Keine Ahnung, warum. Ich bin sicher aber, dass das ihn noch massiver irritierte.

Aber jetzt zum Sprachlichen. Nachdem diese s e h r kurze Episode vorbei war, fielen mir zwei Dinge ein.

Erstens: Gottlob! Die deutsche Sprache ist wirklich ein Wunder! Denn auch der dümmste Mensch weiß – gleichsam instinktiv – , dass die Vokabel „Arsch“ männlich ist, also „der Arsch“ und dass, wenn man dieses Wort im Prädikat benutzt, also als Objekt eines Verbes, in diesem Fall „bewegen“, hat man „den“ und nicht „der“ Arsch zu sagen. Dieser Vorgang ist Ihnen, liebe Deutsche, so selbstverständlich, dass Sie nie daran denken müssen. Und das ist das Wunder. Denn dieses Wunder jedes Mal zu vollbringen, erfordert eine unfassbar komplizierte Zusammenarbeit der körpereigenen Neuronen. Hut ab!

Zweitens: Auch wenn ich in den meisten Situationen ziemlich automatisch auf Deutsch schimpfe, gibt es dennoch Momente, wo ich ohne zu denken in Muttersprachemodus umschalte. Und so war es hier: als hätte der Instinkt quasi die Steuerung übernommen. Anders gesagt: Es ist, als habe ich mit dem Stammhirn geschimpft!

Auf jeden Fall, nachdem besagter Wagen um die Ecke abgebogen war, hab ich mein Foto neu eingerahmt und geschossen. Das Bild hab ich zwar noch nicht von der Speicherkarte heruntergeladen. Ich bin aber überzeugt, dass es sehr schön werden wird.

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