You are here

Zeitvertreib, wenn das Virus droht…

Vielleicht sagt Ihnen „Das Dekameron“ etwas. So nannte der italienische Schriftsteller Giovanni Boccaccio die Sammlung von einhundert Geschichten, die er Mitte des 14. Jh. geschrieben hat. Ich glaube nicht, dass sie auf Netflix zu sehen sind.

Die Rahmengeschichte zu den 100 Geschichten sieht folgendermaßen aus: Wir schreiben das Jahr 1348 oder so. Das Corona-Virus wütet in Florenz. Sieben junge Frauen und drei junge Männer nehmen Zuflucht in einem Landhaus außerhalb der Stadt. Schöne Gärten usw. Natürlich holen sie sich zuerst so viel Toilettenpapier und Nudeln wie nur möglich bei Edeka oder Rewe (kein Lidl damals). Immerhin ist Italien bekannt für seine prima Pasta. Dann ab in die Ferraris und wrrruumm aufs Land.

Als Zeitvertreib erzählen sie sich Geschichten, Geschichten zu verschiedenen Themen. Jeder erzählt täglich eine Geschichte und dies zehn Tage lang. Also 10x10=100. Dann ist die Luft wieder rein, und sie kehren in die Stadt zurück.
Hier nun eine Geschichte:

Ein Bäcker kauft seine Butter von seinem Freund, dem Milchbauer, schon seit Jahren, und diese wird in ein Kilo-Stücken geliefert. Eines Tages legt er aus einer Laune heraus einen frisch gelieferten Butterblock auf die Waage und stellt überrascht fest, dass er weniger als ein Kilogramm wiegt. Das macht ihn stutzig. Von nun an wiegt er die Butterblöcke ständig zur Kontrolle. Es ist immer dasselbe: Sie wiegen weniger als ein Kilo. Nun ist er überzeugt, dass ihn sein alter Freund der Milchbauer seit Jahren betrügt. Er zeigt ihn an.

„Vielleicht möchten Sie sich zu den Vorwürfen äußern, sagt der Richter zu dem Milchbauer, ‚denn ein Betrug scheint hier vorzuliegen.“

„Betrug, Herr Richter?“ sagt der Milchbauer, „Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemanden betrogen. Der Bäcker hat von mir schon immer genau ein Kilo Butter bekommen.“

„Wie können Sie sich so sicher sein?“ fragt der Richter.

„Ganz einfach. Ich habe schon immer seine ein Kilo Brotlaibe als Gegengewicht benutzt, um die Butterstücke abzuwiegen.“

Oder noch eine Geschichte. Diese erzählt von einem Analphabeten namens Luigi, der unbedingt nach Florenz umsiedeln wollte. Dies geschah allerdings lang, bevor das Corona-Virus wütete.

Mutig wie er war, folgten Worten bald Taten, und Luigi zog mit seinem bescheidenen Hab und Gut in die Großstadt und bezog eine kleine Wohnung in der Nähe von der Basilika Santa Croce. Damals waren Wohnungen nicht besonders teuer. Und nun wollte er Arbeit finden. Doch wer möchte in einer kosmopolitischen Stadt wie Florenz einen anstellen, der weder des Schreibens noch des Lesens kundig war?

In der Hoffnung etwas schnell zu finden, rief er in das Arbeitsamt im Palazzo Vecchio an und bekam bereits für den nächsten Tag einen Termin um acht Uhr.

„Übrigens. Ich kann“, sagte er dem Telefonisten, „weder lesen noch schreiben.“

„Das werde ich anmerken“, sagte die Telefonstimme.

Am nächsten Tag begab er sich pünktlich um acht ins Arbeitsamt im Palazzo Vecchio und stellte sich an der Anmeldetheke vor. Die Empfangsdame bat ihn höflich darum, sich hinzusetzen. Das tat er auch. Und nun wartete er. Er wartete und wartete und wartete.

Schon war es neun Uhr. Noch immer saß er fest. Mittlerweile waren auch andere Jobsuchende gekommen. Sie wurden aufgerufen und gingen dann wieder frohen Mutes. Er hingegen saß nur und wartete.

Nun war es schon zehn Uhr. Er harrte da wie eine vergessene Einkaufstüte. Bald war es elf Uhr. Die restliche Kundschaft kam und ging auf laufenden Band. Nur er blieb übrig. Hat man mich vergessen?

Um zwölf Uhr hörte er, wie einer seinen Namen ausrief. Er war endlich an der Reihe.

Er trat ins Büro ein. Man bat ihn Platz und ebenfalls sogleich eine Arbeitsstelle! Und zwar eine sehr wichtige, gut bezahlte Beamtenstelle. Er sollte nämlich für die Vernichtung von Geheimdokumenten zuständig sein. „Bitte entschuldigen Sie, dass wir Sie so lange warten ließen“, erklärte der Beamte vom Arbeitsamt. „Wir wollten aber hundert Prozent sicher sein, dass Sie wirklich nicht lesen und schreiben können. Vier Stunden saßen Sie im Wartezimmer und haben während dieser Zeit keine Zeitschrift, keine Zeitung durchblättert, wie andere es tun, um die Zeit zu vertreiben. Nur einmal haben Sie La Nazione in die Hand genommen, aber Sie haben das Blatt verkehrt rum gehalten. Dann wussten wir: Wir haben den richtigen gefunden für diese wichtige Stelle!“

Ja, es war wirklich eine sehr verantwortungsvolle Beamtenstelle, und der Mann hat dort viele Jahre erfolgreich gearbeitet.

Das sind nur zwei kurze Geschichten. Ich hätte noch einige auf Vorrat: Geschichten über Liebe und Verrat, über Abenteuer und Hingabe, über Pietät und Wollust. Aber keine Sorge, wir haben noch viel Zeit für die Fortsetzung…

Add new comment

Filtered HTML

  • Web page addresses and e-mail addresses turn into links automatically.
  • Allowed HTML tags: <a> <p> <span> <div> <h1> <h2> <h3> <h4> <h5> <h6> <img> <map> <area> <hr> <br> <br /> <ul> <ol> <li> <dl> <dt> <dd> <table> <tr> <td> <em> <b> <u> <i> <strong> <font> <del> <ins> <sub> <sup> <quote> <blockquote> <pre> <address> <code> <cite> <embed> <object> <param> <strike> <caption>

Plain text

  • No HTML tags allowed.
  • Web page addresses and e-mail addresses turn into links automatically.
  • Lines and paragraphs break automatically.
CAPTCHA
This question is for testing whether you are a human visitor and to prevent automated spam submissions.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.