Hallo Leser des Jahres 2069. Hier ein Gruß aus der Vergangenheit. Mag sein, dass unsere Wege mal kreuzten. Doch damals waren Sie sehr jung und ich sehr alt.
Upps! Hab ich „Leser“ geschrieben? Zu meiner Zeit haben viele Leute „LeserInnen“ anstatt „Leser“ geschrieben, um darauf hinzudeuten, dass sie nicht nur Männer, sondern auch Frauen ansprechen. Die althergebrachte kollektive Form „Leser“ galt als diskriminierend.
Keine Ahnung, wie Sie diese Problematik handhaben. Vielleicht sagen Sie wieder „Leser“. Oder vielleicht sind Sie bei „LeserInnen“ geblieben. Oder vielleicht im Sog der Sprachwandlung ist daraus so etwas wie „Lesernn“ geworden mit der Betonung auf dem verlängerten Schluss-„N“.
Ist nicht wichtig. Oder vielleicht doch. Vielleicht leben Sie in einer schrecklichen Unterdrückungsgesellschaft und dürfen Texte wie die meine nur heimlich lesen.
Übrigens: Auch in meiner amerikanischen Muttersprache wird zu meiner Lebzeit der Wortschatz im Sinne der Gleichberechtigung ordentlich aufgemischt. Manche Menschen möchten die geschlechtstrennenden Fürwörter „he“ und „she“ ganz abschaffen. Dafür verwenden sie erfundene Fürwörter, die den Zweck haben, das Geschlecht eines Menschen quasi zu neutralisieren. Sie sagen. „ze“ (sprich „sie“), oder sie benutzen das Plural „they im Singular. Zum Beispiel „they is here“ oder „They said that they wants to eat”. In meinen Ohren klingt das falsch. Aber wer weiß, was zu Ihrer Zeit im Gebrauch sein wird. Die amer. Neutralisierer – oder soll ich lieber „NeutralisierInnen“ – sind selbst unter sich noch nicht einig.
Ich habe gehört, dass eine ähnliche Auseinandersetzung mit Gender im Französischen stattfindet. Wahrscheinlich auch in anderen Sprachen. Wenn ich mich nicht täusche, haben die Schweden bereits eine neutrale Form für die 3. Person erfunden…und sie wird wohl gebraucht! Übrigens: Auf Ungarisch und auf Türkisch hat man das Problem mit „he“ und „she“, „er“ und „sie“ usw. nicht. Man gebraucht für beide stets das gleiche Fürwort. Auf Ungarisch „ö“ (Plural „ök“). Auf Türkisch „o“ (Plural „onlar“). Das kann nur bedeuten, dass die Ungarn und die Türken uns weit voraus und eben viel empfindlicher sind, was die Wertschätzung der Geschlechter betrifft. Ich gehe davon aus, dass die Gleichberechtigung in beiden Kulturen viel weiterentwickelt ist als bei uns.
Sie werden natürlich genauer wissen, liebe künftige Lesernn, ob das immer noch stimmt.
Sie werden auch wissen, wie das mit dem Klimawandel und den CO2-Fußabdrücken geworden ist. Oder nennen Sie dieses Phänomen immer noch „Krisenwandel“? Es gibt nämlich momentan Anregungen, diesen Begriff in „Krisenkatastrophe“ oder „Krisennotstand“ zu verändern.
Wie nennen Sie es? Ach, Sie wissen sooo viel, das ich gern wissen würde. Aber so ist es immer, wenn man mit Menschen aus der Zukunft kommuniziert. Sie haben die Perspektive der Zeit, die mir fehlt.
Was hingegen ihnen fehlt, sind zuverlässige Augenzeugen, die genau Bescheid über die Ereignisse meiner Zeit wissen. Insofern können Sie nie sicher sein, ob das, was sie als „Geschichte“ verstehen, nicht in Wirklichkeit Fake News ist. Benutzen Sie noch den Begriff „Fake News“? Er ist momentan der letzte Schrei. Ich glaube, er wird momentan von fast allen auf der ganzen Welt verstanden – egal welche Sprache man redet…und auch wenn einer sonst kein Wort Englisch versteht.
Zum Beispiel heute…ja, ich meine „heute“ im Sinne von „in genau diesem Augenblick“. Heute ist etwas geschehen, was bestimmt in Ihren Geschichtsbüchern längst zu lesen ist. Ein sechszehnjähriges Mädchen – wahrscheinlich lebt sie noch zu Ihrer Zeit oder ist das Oberhaupt einer Weltregierung und hat bereits die ganze Menschheit dank ihrer Heilslehre vor dem Klimauntergang gerettet.
Dieses Mädchen ist heute (ja, heute) nach einem Trek über den Atlantik in Portugal angekommen. Wie Sie bestimmt gelesen haben, hat sich das Meer geteilt und ist mit ihrer Entourage quer durchs Meer trockenen Fußes marschiert! Das wissen Sie aber schon…oder? Aber vielleicht hat sich in den Jahren zwischen meiner und Ihrer Zeit etwas ereignet, dass dieses historische Ereignis irgendwie kolportiert hat. So was kommt auch mal vor.
Es sind nur Augenzeugen, die uns zu jeder Zeit bestätigen können, ob etwas wirklich geschah, wie behauptet. Sonst klingt alles wie Fake News. Oder?
Zufälligerweise kenne ich jemanden, der mit eigenen Augen in Portugal das geteilte Meer und ebenfalls das sechszehnjährige Mädchen samt Entourage gesehen hatte, wie sie ans Land gekommen sind. Ein bemerkenswertes Ereignis
Ja, Sie können mir glauben: Sprachen ändern sich ständig. Die Wahrheit aber, sie waltet ewig.
In eigener Sache: Bin die nächsten zwei Wochen auf Geheimmission. Keine neuen Glossen während dieser Zeit. Nächstes Mal…zu Weihnachten…und mit froher Botschaft.
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