Haben Sie bereits Ihre heutige Portion Flugscham erlebt? Es ist momentan de rigeur! Oder Sie, ja Sie da mit dem SUV oder mit dem scharfen Porsche: Schämen Sie sich nicht darum, so eine CO2lästige Karre zu besitzen?
Neulich erspähte ich ein A4-Blatt, das ein Klimaritter an die Autoscheibe eines Porsche angeheftet hatte. Hier ein Zitat: „Die Klimakatastrophe ist längst da, und Sie fahren immer noch so einen Panzer? Es gibt keinen Grund dafür – und kein Recht dazu…etc.“ Der Text war ziemlich lang. Und gleich um die Ecke fand ich dasselbe an der Scheibe eines BMW-SUVs angeklebt. Hat mich an die guten alten Tage erinnert, als die DKP lange, dreispaltige, dichtgeschriebene Tiraden gegen den Kapitalismus an Lichtmasten heftete.
Aber zurück zur Flugscham…bzw. der Scham schlechthin. Schamgefühle scheinen wieder in Mode zu sein, was für einige vernachlässigte Vokabeln der dt. Sprache vielleicht als positiv gedeutet werden könnte.
Das Wort „beschämen“, zum Beispiel. Das macht der Autor des A4-Blatts, das ich an der Porsche- und der BMW-SUV-Scheibe vorgefunden hatte. Der anonyme Autor verwendet zwar das Wort „Scham“ bzw. „sich schämen“ nicht. Er will aber den Halter jener Vehikel mit Sicherheit beschämen. Es fehlte nur eine Floskel wie „Schämen Sie sich nicht?“ oder ähnlich in seinem Text.
Aus der „Scham“-Familie werden heutzutage am häufigsten das Wort „“unverschämt“ und in Bayern vielleicht „gschamig“ gebraucht. Ja, und natürlich beim Arzt ist „die Scham“ im Sinne von Genitalien (meist weibliche) bisweilen ein Gesprächsthema. Auch „Schamhaare“ dürfen wir nicht vergessen.
Nur: Im Zeitalter der Depilation werden „Schamhaare“ (bzw. „Körperbehaarung“ schlechthin) immer weniger thematisiert. In bestimmten Kreisen gibt es sie überhaupt nicht. Das wird sich mal sicherlich wieder ändern.
Kann es vielleicht sein: Weil man sich seiner Schamhaare nicht mehr schämt, will man sich auf anderen Gebieten schämen…zum Beispiel aufs Fliegen übertragen? Nur eine Theorie meinerseits, aber es könnte ja stimmen.
Es ist bezeichnend, dass man sich früher sogar der Scham geschämt hatte. Im Ernst. Die Scham war einst sehr weit verbreitet.
Wissen Sie, dass Ethnologen vor ca. 80 Jahren oder so menschliche Kulturen in „Scham“- und „Schuldkulturen“ zweiteilten?
Zumindest im angelsächsischen Bereich wurden diese Begriffe verwendet. Wenn ich mich richtig erinnere, war es die amer. Anthropologin Ruth Benedict, die diese Terminologie aus dem Boden gestampft hat. Sie sagte dazu auf Englisch „shame culture“ und „guilt culture“.
„Schuld“ und „guilt“ sind allerdings nicht immer gleichbedeutend. Eine „guilt culture“ ist jedenfalls eine, wo Schuldgefühle eine führende Rolle im Gesellschaftsvertrag spielen. Man sündigt und wird von Schuldgefühlen geplagt. So funktionieren z.B. die Kulturen, die von Religionen wie Islam, Christentum und Judentum beeinflusst werden. Es geht praktisch stets um eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewissen.
Schamkulturen sind anders. Wenn man etwas verbockt hat, schämt man sich dessen vor anderen. Allein durch diese Schamgefühle wird die Gesellschaftsordnung aufrechterhalten. In den Schamkulturen spielt also die eigene Ehre die große Rolle.
Und dann gibt es die „Schande“. Das Wort ist übrigens etymologisch mit „Scham“ verwandt. Manchmal bedeuten sie dasselbe.
Ich würde mich, z.B., schämen, wenn ich meinen E-Roller auf dem Gehweg querparken würde. Manche meinen hingegen, dass wenn ich über so ein umweltfreundliches Ding stolpere, bin ich selber schuld.
Und das Fliegen? Mit dieser Frage haben wir diesen Traktat über die Scham angefangen. Also nochmals die Frage: Haben Sie bereits Ihre Portion Flugscham erlebt?
Ich jedenfalls noch nicht. Vielleicht liegt es aber daran, dass Ich das Fliegen ohnehin seit Jahren hasse – auch bevor es Mode war. Nur Engel, Vögel, Bienen und Mücken sind meiner Meinung nach wirklich heimisch in der Luft. Ich bleibe lieber auf festem Boden und lasse die anderen über ihre CO2-Fussabdrücke verhandeln.
Add new comment