Fünf Tage, bevor er starb, war K. nicht mehr in der Lage zu reden. Vielleicht hat der Krebs sein Hirn irgendwie aufgemischt. Er hat zwar alles verstanden – das vermute ich jedenfalls – , doch wenn er seinen Mund aufmachte, als wollte er etwas sagen, kam nur ein ausgedehntes „Aaaa“ raus. Oder war das ein „Quaaaa“? Das weiß ich nicht mehr.
Fest steht: Er klang wie eine Ente oder vielleicht eine Ziege. Wie ein Tier halt. Wenn ein Tier zu „reden“ anfängt, schafft es auch nicht viel weiter als ein „Baaa“ oder „Muuuu“ oder „Grieeeee“ oder ähnlich.
K. war eine der belesensten, denkstärksten und beredsamsten Personen, die ich je kannte. Er konnte stundenlang über vorislamische arabische Poesie, die hebräischen Psalmen, die Aeneis, Homer, Dante, Goethe, Baudelaire, Ezra Pound u.v.a.m. vortragen. Obendrein: Er hat alles in der originalen Sprache gelesen.
Ich glaube nicht, dass dieses Wissen in den letzten Tagen seines Lebens weg war. Ich denke, er war nur nicht in der Lage, Gedanken in Worte zu fassen. Alles, was er sagen wollte, wurde zum einem „Aaaa“ oder „Quaaa“.
Als ich ihn das letzte Mal am Tag vor seinem Tod besuchte, las ich ihm Lyrik vor. Er hat gebannt zugehört. Die Lesung schien ihn auch zu beruhigen.
Alles hat sein „MHD“. Frau M., Chefin vom Paradies – ja, wieder etwas über meinen Lieblingsobstundgemüseladen – hasst den Begriff „MHD“. Zu Deutsch: Mindesthaltbarkeitsdatum. Sie hasst den Begriff, weil er bedeutet, dass sie nach dem angegebenen Datum einwandfreie Waren nicht mehr verkaufen darf. Eine Absurdität – wenn es nicht gerade um verschimmelte Himbeeren, stinkenden Schinken, schrumpeligen Salat u.d.gl. handelt. Manchmal kauf ich bei ihr Joghurt oder Butter, und ich verbrauche diese lange, nachdem das MHD überschritten ist.
„Es ist ein Fluch, und das Schlimme ist: Ich verliere Geld und Zeit, weil ich so pflichtbewusst bin!“
Menschen haben kein MHD. Ich kenne zumindest keins. Es sei denn, man entschließt sich, dem eigenen Leben ein Ende zu machen, was ich für keine gute Idee halte. Oder erreicht man dieses Datum doch, wenn man, wie K., sterbenskrank wird?
Man hätte das fast meinen können, wenn man K. in den letzten Wochen seines Lebens sah. Er wirkte immer fahler, wie ein beinahe durchsichtiger Strich. Zu besten Zeiten war er leicht übergewichtig (manche sagen „wohlernährt“) und spendierte Worte, als würde er über einen unendlichen Vorrat verfügen. Verdorbene Waren halt.
Wer hätte geahnt, dass er am Schluss nur noch „Aaaa“ oder „Quaaaa“ zu sagen vermöchte. Aber wer weiß? Vielleicht waren das – zumindest für ihn – keine Urschreie. Vielleicht war er überzeugt, dass er immer noch Vernünftiges zum Ausdruck brachte. Wir werden es nie rauskriegen – oder vielleicht doch.
Als ich jung war, ich meine in den USA, lernte ich mal einen Mann kennen, einen Griechen, der einen Schlaganfall erlitten hatte. Wenn man ihn etwas fragte, konnte er lediglich „uchi“ antworten – was auf Neugriechisch „nein“ bedeutet. Manchmal sagte er auch „goddamn“ auf Englisch.
In diesem Fall, bin ich sicher, dass er dessen bewusst war, dass er nicht in der Lage war, das zu sagen was er wollte – weder auf Griechisch noch auf Englisch.
Im Fall von K. weiß ich‘s nicht. Das Hirn kann manchmal große Zaubertricks spielen. Neulich hab ich ein Interview mit einer Frau gesehen, die mal in einem Wachkoma lag. Sie war so gut wie ans Bett gefesselt, doch sie nahm alles um sich herum auf – mit Gleichmut sogar, als wäre ihre Situation ganz normal.
Nebenbei: Sind Sie sicher, dass ein babbelndes Baby wirklich nur Sinnloses redet? Ich glaube es persönlich nicht. Ich denke, ein Baby ist überzeugt, dass es an einem Gespräch teilnimmt – oder dass ein Monolog ein Gespräch ist. Jedes Baby kennt die Antwort. Fragen Sie eins halt.
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