Es ist verzeihlich, wenn man den Namen Friedrich Tiedemann nicht kennt, obwohl es sicherlich irgendwo in Deutschland eine (bzw. mehrere) Friedrich-Tiedemann-Straßen gibt (hab dies aber nicht gegoogelt).
Er wurde 1781 in Kassel geboren; gestorben ist er 1861 in München.
Tiedemann war Anatom und Physiologe und hat 1837 in Deutschland ein bannbrechendes Buch veröffentlicht, das ihm heute, würde er es veröffentlichen, nur ins Unglück stürzen würde. Das Werk trug den Titel: „Das Hirn des Negers mit dem des Europäers und Orang-Outangs verglichen“. Sie ahnen das Problem. Nebenbei: Diese Abhandlung erschien bereits ein Jahr früher, und zwar in englischer Sprache unter dem Fittich der Royal Society in London. Ja, schon damals war die englische Sprache auf dem Weg, die Weltsprache der Naturwissenschaftler zu werden. Die Urfassung hieß: “On the Brain of the Negro, compared with that of the European and the Orang-Outang”.
So oder so würde jemand heutzutage, der ein Buch mit diesem Titel geschrieben hat, keinen Blumentopf gewinnen. Im Gegenteil. Man würde ihn mit dem Torf da drin bewerfen, oder auf die Barrikaden gehen, um wegen des unverschämten, rassistisch klingenden Titels einen tosenden Shitstorm (auf Englisch „firestorm“) auszulösen.
Nichts wäre allerdings unpassender als dies. Denn das Werk von Tiedemann war alles anders als eine rassistische Postille. Zwar gab es schon immer Nazis und dergleichen, die behaupteten, weil sie lediglich den Titel gelesen hatten, dass Tiedemann bewiesen hätte, dunkelhäutige Menschen seien das Nachkommen der Affen usw. Stimmt alles nicht.
Fakt ist: Das Gegenteil wollte Tiedemann wissenschaftlich untermauern. Er hatte nämlich mittels anatomischer Studien nachgewiesen, dass das Hirn eines Europäers kein Deut anders sei als das eines Schwarzafrikaners und dass beide grundsätzlich anders wären als das eines Orang-Outangs, der nun mal ein Affe ist. Letztendlich betrachtete Tiedemann sein Buch als Polemik gegen die Sklaverei, die damals im Abendland noch immer virulent grassierte. Tiedemanns Schlussfolgerung: Mensch ist Mensch und die Sklaverei ist unmenschlich.
Obiges berichte ich aus einem bestimmten Grund: Ein Freund von mir, der Antiquar ist, wollte neulich eine erste, kostbare Ausgabe des Tiedemann-Buchs im Internet zum Verkauf anbieten. Zwei Sachen sind passiert:
Erstens: Empörung wegen des Titels. „Mein Rechner fing beinahe Feuer“, beteuerte er mir.
Zweitens: Prompt gab es eine Abmahnung von einem sog. Minderheitenbeauftragten, weil dieser im Suchprogramm auf das Wort „Neger“ stieß, das offenbar nicht mehr zulässig ist. Dieser drohte jedenfalls mit einem empfindlichen Bußgeld, sollte mein Freund das Buchangebot nicht sofort löschen.
Natürlich hatten weder die empörten Shitstormer noch der Minderheitenbeauftragte auch nur die leiseste Ahnung über den Inhalt des Buches. Sie reagierten lediglich auf den Gebrauch des heute verpönten Wortes „Neger“ und wurden wie die Echsen, wenn sie eine Fliege ins Visier nehmen. Keine Fragen. Zunge schnell raus, Fliege rein.
Mein Freund der Antiquar gab sich Mühe, den Angreifern aus der Trance zu wecken. Aber Ärger bleibt Ärger. Zum Glück konnte er das Buch direkt im Laden verkaufen.
Ende gut alles gut?
Nein, weil Cowboys immer erst schießen und dann Fragen stellen. Unreflektierte Reaktionen wie die obigen bezeichnet man auf Englisch (in der Sprache also der ursprünglichen Ausgabe des Tiedemann-Buches) als „Knee-jerk-reactions“ Sie kennen das: Der Arzt klopft kurz und fest aufs Knie, um zu sehen ob Ihre Reflexe in Ordnung sind. Wenn alles ok ist, nimmt man eine automatische Zuckung wahr, auf Englisch „knee jerk“.
„Jerk“ hat allerdings auf Englisch eine zweite Bedeutung: „Vollidiot“. Auch ein undurchdachter Hang zu Political Correctness könnte man – wie in diesem Fall – als knee-jerk-Reaktion bezeichnen…oder vielleicht noch besser als Vollidiotie.
Eigentlich wollte ich heute über mehrere Beispiele dieser Abwege der politischen Korrektheit berichten. Sie sehen aber: Mit einem ist man schon bedient.
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