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Eigentlich eine Horrorgeschichte

Zu Beginn eine Fangfrage: Wer hat das bessere Gedächtnis, der Mensch aus einer Schriftkultur oder derjenige aus einer schriftlosen Kultur?

Wenn Sie meinen, dass der analphabetische Mensch, das bessere Gedächtnis hat, weil er seinen Kopf vom vielen Lesestoff und von einer sonstigen endlosen Informationenberieselung frei halten kann, dann haben Sie sich geirrt. Fakt ist: Wer des Lesens kundig ist, der ist fürs Auswendiglernen um einiges fitter.

Der Grund dafür liegt auf der Hand. Eine schriftliche Vorlage dient stets als zuverlässige Kontrolle. Man kann jederzeit auf sie Bezug nehmen, um seine Fehler zu korrigieren.

Will ein Mensch aus einer schriftlosen Kultur hingegen einen mündlich tradierten Text auswendig lernen, hat er nie eine Garantie, dass das, was er vorträgt, der vorgegebenen Vorlage genau entsprechen wird.

Ein Beispiel: Der britische Völkerkundler Jack Goody hat sich Mitte des letzten Jahrhunderts mehrmals beim damals schriftlosen LoDagaa-Volk in Ghana aufgehalten und konnte 1950 das heilige Schöpfungs- bzw. Lehrgedicht der LoDagaa, "Bagre“ genannt, aufschreiben. Der Text, den er später ins Englische übersetzte, hatte eine Länge von etwa 6000 Zeilen. Er glaubte, er habe ein Heiligtum schriftlich fixiert, als handelte es sich um eine LoDagaa Bibel. Jahre später – diesmal mit Tonbandgeräten bewappnet – machte er mehrere neue Aufnahmen des "Bagre“ – und zwar in verschiedenen Dörfern. Nun stellte er fest, dass der Text jedesmal anders war. Manche Versionen hatten sogar weniger als 2000 Zeilen. Einzig und allein stimmten bei jeder Version etwa ein Dutzend Anfangsverse überein. Merkwürdigerweise fielen dem Publikum die erheblichen Unterschiede nie auf, zumindest war nie davon die Rede. Im Gegenteil. Die Vorträger behaupteten hartnäckig, es gebe nur das eine "Bagre“.

Diese Veränderbarkeit des "Bagre“-Textes soll nicht als eine Besonderheit der LoDagaa verstanden werden. Sie ist bei allen schriftlosen Kulturen der Normalfall, wenn sie ihre Vergangenheit mündlich tradieren. Nicht von ungefähr existieren, z.B., verschiedene Versionen der alten sumerischen "Gilgamesch“-Geschichte. Sie wurden offensichtlich zu unterschiedlichen Zeiten niedergeschrieben und spiegeln unterschiedlichen mündliche Traditionen wider . Gleiches gilt auch für die Mythen der Griechen. Man wird sie nie ganz systematisch ordnen können, weil man sie zum Teil in verschiedenen Versionen hat.

Sie ahnen schon: Hier ist das Prinzip "stille Post“ am Werk.

Fakt ist: Erst die Niederschrift fixiert eine mündliche Botschaft. Das haben, zum Beispiel, die Brüder Grimm im frühen 19. Jahrhundert mit den Märchen der Deutschen getan. Nur: Seitdem diese Fabel als "Kinder- und Hausmärchen“ gesammelt wurden, sind sie allesamt unveränderbar geblieben. Wer weiß, was aus Schneewittchen oder Dornröschen geworden wären, hätten die Grimms sie nicht als Inhalt eines Sammelbands fixiert.

Ein Leben in der ewigen Gegenwart – so stelle ich mir das Dasein eines schriftlosen Naturvolks vor. Alles was vergangen ist und was durch Worte vermittelt wird, nimmt praktisch die Form einer Wolke an – verändert sich fortwährend. So gesehen, ähnelt die Vergangenheit, wenn einer des Lesens unkundig ist, irgendwie einem Traum.

Nebenbei: Die wenigen Sklavenaufstände in den USA und in Südamerika wurden ausnahmslos von schriftkundigen Sklaven angezettelt. Die analphabetischen Massen gingen mit ihrem Schicksal ständig passiver um als die Lesenden.

Und jetzt kehren wir ins 21. Jahrhundert nach Europa zurück, in eine Welt, die die schriftlose Kommunikation für sich neu entdeckt hat. Es ist eine Welt des Fernsehens, des Youtube, der Hörbücher und der Touchscreenikonen. Bald muss man vielleicht kaum mehr lesen, um auf seine Kosten zu kommen. Freuen Sie sich schon?

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